Urtica dioica

„Die Brennnessel sticht ganz schauderhaft, doch hat sie auch geheime Kraft.“

[Volksmund]

Große Brennnessel (Flora von Deutschland, Österreich und der Schweiz, 1885)

Die Große Brennnessel ist eine von vier Pflanzenarten der Gattung Brennnessel, die in Deutschland beheimatet sind. Sie soll hinsichtlich Vorkommen, Mythos und Nutzung an dieser Stelle stellvertretend für alle heimischen Vertreter der Gattung Urtica beschrieben werden. Die zweihäusige ausdauernde Pflanze gilt den meisten Menschen als übles Unkraut, das überdies bei Berührung der kieselsäurehaltigen Brennhaare schmerzhafte Quaddeln verursacht. Dabei ist die Brennnessel eine der am vielfältigsten einsetzbaren Nutzpflanzen, die es in unseren Breiten gibt. Ihre dunkelgrünen, an der Unterseite behaarten Blätter sind herzförmig und an den Rändern gesägt. Von Juli bis Oktober kommt es zur Blüte. Neben ihrer generativen Vermehrung breitet sich die Brennnessel auch vegetativ über unterirdische Rhizome aus. Brennnesseln gelten als Stickstoffzeiger und wachsen besonders gerne auf nährstoffreichen Böden. Es ist daher kein Wunder, dass sie ganz im Gegensatz zum oben beschriebenen Bärlauch als Kulturfolger des Menschen häufig auf anthropogen eutrophierten Flächen anzutreffen sind. Das massenhafte Auftreten der Pflanze ist deshalb ein untrüglicher Hinweis auf ein gestörtes Ökosystem, auf Überdüngung und Gülleeintrag. Geographisch verbreitet ist die Große Brennnessel auf der gesamten Nordhalbkugel mit Ausnahme der Tropen und der Arktis. Oft findet man sie in Flussniederungen oder im schattigen Saum von Laubwäldern. Sie liebt Feuchtigkeit und ist daher auch im regenreichen Norddeutschland besonders stark vertreten.

Mythos

Ebenso wie viele andere stachelige und dornige Pflanzen gilt die Brennnessel im Volksglauben als dämonenabwehrend. So wurde sie in vielen Regionen Europas im sogenannten Stallzauber eingesetzt. Man band Sträuße aus Brennnesseln, die man zum Schutze des Viehs aufhängte. Nach isländischem Glauben lassen Hexen und Zauberer von ihrem Tun ab, sobald man sie mit Brennnesseln schlägt. Aus den Weiten Russlands ist überliefert, dass man in der Mittsommernacht einige dieser Pflanzen an den Eingängen der Häuser befestigte. Man versprach sich davon die Abwehr bisweilen unheilvoller Kräfte aus der Anderswelt, die in dieser Zeit die Außenwelt durchströmten. Mitunter verwendete man das wehrhafte Kraut auch, um ein Sauerwerden der Milch zu verhindern oder um ein Gerinnen des Rahms beim Buttern zu gewährleisten. In alten Tagen ging man nämlich davon aus, dass Milch und Milcherzeugnisse stark durch übelwollende Hexen und Schwarzmagier bedroht würden.[1] Der Vorstellung, wonach Brennnesseln und andere Pflanzen mit Stacheln und Dornen sich besonders gut zur Abwehr von mannigfaltigen Formen des Schadenzaubers eignen, liegt das Konzept des Analogiezaubers zugrunde. Demnach würden äußerlich ähnliche Dinge auch über eine inhaltliche Verbindung verfügen. Walnüsse erinnern hinsichtlich ihrer Gestalt an das menschliche Gehirn, weshalb ihr Genuss selbigem zugute kommen würde. Phallische Objekte wirkten sich aufgrund ihrer äußeren Form positiv auf die Manneskraft aus. Und da gezackte, dornige und anderweitig wehrhafte Pflanzen streitbaren Waffen ähnelten, verfügten sie in der Denkweise des Analogiezaubers über vergleichbare Kräfte im übertragenen Sinn. Brennnesseln wurden von den Ärzten und Alchimisten des Mittelalters und der frühen Neuzeit daher dem römischen Kriegsgott Mars zugeordnet.

Eine interessante Verbindung geht die Brennnessel im Volksglauben auch mit dem Wetterphänomen Gewitter ein. In Bezug auf den Analogiezauber lässt sich leicht die Entsprechung der auf der Haut brennende Quaddeln verursachenden Blätter und dem Feuerelement ziehen. So soll man laut Jacob Grimm einen Bund der Pflanze beim Bierbrauen neben das Fass legen, so würden Blitz und Donner das Getränk nicht verderben.[2] Entsprechend ordnete man in Mitteleuropa und Skandinavien das Kraut dem Donnergott Donar/Thor zu, der einerseits als Wettergottheit andererseits als großer Zecher galt.[3] Vor der Einführung des Reinheitsgebotes im 16. Jahrhundert verwendete man beim Bierbrauen unterschiedlichste Zusatzstoffe, darunter auch psychoaktive pflanzliche Beimischungen aus der Familie der Nachtschattengewächse. Zu dieser Zeit wurden möglicherweise auch Brennnesseln dem Gebräu beigemengt. Übrigens wird noch heute in England ein schmackhaftes Nesselbier zubereitet, das weiter unten bei den Rezepten aufgeführt ist.[4] Außerdem wurde die Brennnessel früher als Aphrodisiakum eingesetzt und zwar nicht selten auf drastische Weise. Denn nicht allein der Verzehr ihres Samens reize angeblich zum Beischlaf. Bereits Plinius der Ältere berichtet von der Praxis, die Genitalien des Viehs vor der Begattung mit frischen Brennnesseln abzureiben.[5] Konrad von Megenburg warnte im 14. Jahrhundert gar vor der unkeuschen Pflanze.[6]

Die faserhaltige Pflanze wurde in früheren Zeiten auch zur Textilherstellung eingesetzt – noch heutigentags erkennbar anhand der offenkundigen Verwandtschaft des Wortes Nessel mit „nähen“, „nesteln“, „Netz“. Viele Schiffe des 15. Jahrhunderts besaßen robuste und wetterfeste Segel aus Nesseltuch.[7] Hans Christian Andersens Märchen „Die wilden Schwäne“, das den „Sechs Schwänen“ der Brüder Grimm stark ähnelt, nimmt darauf Bezug. Die Märchenheldin erlöst ihre Brüder von der magischen Verwandlung in Tiergestalt, indem sie auf dem Friedhof Brennnesseln sammelt und daraus Hemden fertigt. Eine Fee in der Gestalt einer alten kräuterkundigen Frau hatte ihr dazu geraten: „Siehst Du die Brennnessel, die ich in meiner Hand halte? Von derselben Art wachsen viele rings um die Höhle, wo Du schläfst; nur die dort und die, welche auf des Kirchhofs Gräbern wachsen, sind tauglich: merke Dir das. Die mußt Du pflücken, obgleich sie Deine Hand voll Blasen brennen werden. Brich die Nesseln mit Deinen Füßen, so erhältst Du Flachs; aus diesem mußt Du elf Panzerhemden mit langen Ärmeln flechten und binden; wirf diese über die elf Schwäne, so ist der Zauber gelöst.“[8]

Kost

Brennnesseln sind ausgesprochen vitamin-, protein- und mineralstoffreich. Landläufig kennt man die Verwendung der Blätter als harntreibender Tee. Neben dem Grünzeug werden auch die Wurzeln häufig bei Miktionsbeschwerden eingesetzt. Als Rheuma- und Haarwuchsmittel sowie als Pflanzenstärkungsmittel wird die vielseitige Pflanze ebenfalls genutzt. Gerade im Frühjahr und frühen Sommer können die zarten Triebe und Blätter als schmackhaftes Wildgemüse oder als Salat zubereitet werden. Brennnesselspinat ist ein absolutes Muss für jeden Wildgemüsefreund. Dazu werden junge Triebe mit kochendem Wasser überbrüht und anschließend sofort mit kaltem Wasser gekühlt. Auf diese Weise erhält sich die appetitliche grüne Farbe und die Pflanze wird gleichsam entwaffnet, indem man ihre Brennhaare zerstört. Anschließend werden die noch unversehrten Triebe vorsichtig ausgepresst und klein gehackt. Eine Mehlschwitze aus Butter und Mehl, Salz, Milch und einige Gewürze (etwa Muskat oder Pfeffer) runden die gesunde Frühlingsspeise hinsichtlich Geschmack und Konsistenz ab. Der Volkskundler und Ethnobotaniker Wolf-Dieter Storl beschreibt ein erfrischendes englisches Nesselbier, das aus folgenden Zutaten gebraut wird: Ein großer Eimer junger Brennnesselblätter, drei bis vier Handvoll Löwenzahn, drei Handvoll Kletterlabkraut, eine Ingwerzehe. Zusammen mit acht Liter Wasser werden alle Bestandteile etwa fünfundvierzig Minuten schonend gekocht. Dann lässt man den Sud abkühlen und fügt zwei Tassen braunen Zucker und etwa dreißig Gramm Brauereihefe hinzu. Nachdem das Gebräu sieben Stunden warm gehalten wurde, wird der entstandene Schaum abgeschöpft und ein Teelöffel Weinstein beigemengt. Nun kann das Ganze in Flaschen abgefüllt und fest verschlossen werden. Nach der Blüte ist beim Verzehr der Blätter Vorsicht geboten, da sich infolge der Samenproduktion kalkhaltige Zystolithen ausbilden, die sich negativ auf Nieren und Harnwege auswirken können. Nun richtet man seine Aufmerksamkeit ganz auf die Blüten, die eine würzige Beigabe für jeden Salat darstellen. Besonders lecker, allerdings mühsam zu sammeln, sind die Samen der Pflanze. Sie haben einen nussigen Geschmack und eignen sich vortrefflich für Panaden und als Beigabe beim Backen von Brot und Brötchen.

Welf-Gerrit Otto

 

Anmerkungen

[1] Zu vorangegangenen und nachfolgenden Beispielen aus dem Volksglauben vgl. (wenn nicht anders ausgewiesen) Bächtold-Stäubli 2008, I: 1532ff.

[2] Vgl. Grimm 1968, III: 445. Möglicherweise hemmen einige der chemischen Inhaltsstoffe der Pflanze die Entwicklung von Essig- und Milchsäurebakterien, die bei schwülem Wetter besonders aktiv sind. Mancher vermeintliche Aberglaube lässt sich dieserart durchaus rational erklären.

[3] Vgl. Storl 2007: 51f.

[4] Ebd. 53.

[5] Vgl. Plinius 2007: B 22, 36.

[6] Vgl. Zerling 2013: 46.

[7] Vgl. Zerling 2013: 45.

[8] Hans Christian Andersen: Die wilden Schwäne.

[Verwendete Literatur]