Sambucus nigra

„Vor Holunder soll man den Hut abziehen.“

[Volksmund]

Schwarzer Holunder (Sambucus nigra), Johann Georg Sturm: Deutschlands Flora in Abbildungen, 1796

In Mitteleuropa ist der Schwarze Holunder eine der häufigsten Straucharten. Das holzige Gewächs gehört zur Gattung Holunder aus der Familie der Moschuskrautgewächse und kann ein Alter von hundert und mehr Jahren erreichen. Rund zehn Arten subsumieren sich weltweit unter dieser Pflanzengattung. Im deutschsprachigen Raum gedeiht neben dem Schwarzen Holunder der Rote Holunder sowie der Zwerg-Holunder. Wenn man auf den Holunder zu sprechen kommt, ist allerdings gemeinhin der Schwarze Holunder gemeint. Der winterkahle Strauch erreicht bisweilen eine Wuchshöhe von mehr als zehn Metern. Sein Geäst ist weit verzweigt und ausladend. Die gegenständigen Laubblätter sind unpaarig gefiedert, wobei die aus fünf oder sieben Einzelblättern bestehenden Blattfiedern etwa dreißig Zentimeter messen. In den Wochen um Mittsommer bilden sich handtellergroße Schirmrispen, aus denen zahlreiche weiße Einzelblüten hervorbrechen, die einen fruchtigen Geruch verströmen. Ganz im Gegensatz zum schneeweißen Blütenstand sind die im Spätsommer reifenden beerenförmigen Früchte von tiefem Schwarz. Den hinsichtlich seines Standortes recht anspruchslosen Schwarzen Holunder findet man im gesamten Europa, Teilen Nordafrikas, im westlichen Asien und in Nordindien. Bei uns wächst er häufig im Halbschatten von Gebäuden und im wildwuchernden Dickicht naturbelassener Begrenzungen, sozusagen auf der Grenze zwischen Zivilisation und Wildnis.

 

Mythos

„Um Himmels Willen, überall Erdwespen! Erdwespen! Die wollen mich fertig machen!“ Der Freund meiner Schwester war keineswegs von zimperlicher Natur und so wunderten wir uns an jenem schönen Sommertag vor einigen Jahren, als der gestandene Gärtner mit hochrotem Kopf in die Küche gestürzt kam und völlig aufgelöst von seinen Erlebnissen da draußen berichtete. Als Mann der Tat wollte er, wohl nicht zuletzt um seine Schwiegereltern in spe zu beeindrucken, den verwilderten Winkeln unseres Gartens zu Leibe rücken. Die Vegetation sollte mittels Säge und Rosenzange in ihre seiner Ansicht nach nur allzu lange vernachlässigten Grenzen gewiesen werden. Mit diesem Vorhaben hatte er sich an diesem sonnigen Vormittag pfeifend und guter Dinge auch einem stämmigen Holunderstrauch genähert, der noch heute im Nordwestwinkel unseres Gartens gedeiht und in jedem Sommer wunderbar duftende Blüten treibt. Das sollte dem Burschen eine Lehre werden, die er wohl Zeit seines Lebens nicht wieder vergessen wird. Denn kaum hatte er Hand an das wilde Gesträuch gelegt, brach aus den unergründlichen Tiefen des Blätterwaldes urplötzlich eine wilde Schar aufgebrachter Insekten hervor und nahm sich seiner in ausgesprochen brachialer Weise an. Wie dem auch sein mag. Wir wollen hier keine voreiligen Schlüsse ziehen, die ins Esoterische abschweifen. Fakt ist, dass die Volksüberlieferung vielfach davon zu berichten weiß, dass man den Holunder ohne den nötigen Respekt und die erforderlichen Vorkehrungen lieber nicht absägen sollte: „Willst du aus dem Leben scheiden, musst du den Holunder schneiden“, sagt man daher in einigen Gegenden.

Der Volksglaube kennt viele Beispiele dafür, dass das Umhauen oder Verstümmeln des Holunders Unglück nach sich zieht. Da ist ein Schwarm angriffslustiger Wespen noch ein vergleichsweise geringes Übel. Vieh siecht dahin, Krankheit sucht die Wohnstatt der Menschen heim, nahe Angehörige sterben eines qualvollen Todes – all das, weil sich jemand unheilvoll am heiligen Gesträuch vergriffen hat. Eine schlesische Sage weiß von einem Haus zu berichten, das in Flammen aufging, nachdem sein Besitzer einen Holunderbusch gefällt hatte.[1] Eng verbunden mit Gedeih und Verderb der ansässigen Menschen ist die Unversehrtheit der hausnahen Wildnis. Denn in der Wildnis liegt die Erhaltung der Menschenwelt. Als Lebensbaum und Vegetationsgeist, der die Zivilisation umfriedet und die Sippen nährt, seinen Segen bei Verletzung und Nichtachtung jedoch ins Gegenteil wendet, erscheint der Hollerbusch daher in zahlreichen Erzählungen, die sich um ihn ranken. Die Ambivalenz seines heilbringenden und zerstörerischen Einflusses zeigt sich bereits an dem Gegensatz zwischen weißen Blüten und schwarzen Früchten – man erinnere sich nur an das Grimmsche Märchen von Frau Holle und den Lohn der entrückten Akteure Goldmarie und Pechmarie, der unterschiedlicher nicht sein könnte.[2] So wird auch klar, weshalb die Mädchen durch den Brunnen tief in die Erde, gleichsam in das Wurzelwerk des Holunders vordringen müssen, um dort die Holle zu treffen und ihre Bettwäsche auszuschütteln, worauf wohl ursprünglich nicht Schnee, sondern weiße Blüten vom Himmel rieselten.

Frau Holle ist ein gutes Stichwort. Sie wurde von Jacob Grimm als vorchristliche Vegetations- und Fruchtbarkeitsgottheit erkannt und namensgebend mit dem Holunderbusch in Beziehung gesetzt. Der etymologische Bezug zur germanischen Unterweltsgöttin Hel ist offenkundig: „Surtur fährt von Süden mit flammendem Schwert / Von seiner Klinge scheint die Sonne der Götter / Steinberge stürzen, Riesinnen straucheln / Zu Hel fahren Helden, der Himmel klafft“ heißt es in der altisländischen Edda-Dichtung.[3] Folgt man Grimm, kann die Bezeichnung Frau Holle auch auf die gesamte Pflanze bezogen werden, da sich die ehrerbietige Anrede auch bei anderen geheiligten Bäumen findet, etwa bei Frau Hasel oder Frau Wacholder.[4] Doch nicht nur Frau Holle soll im oder unter dem Holunder hausen. Nach mittel- und nordeuropäischer Überlieferung sind es eine Vielzahl von Erd- und Vegetationsgeistern, die verborgen im Busch das Geschick der Menschen bestimmen. Im Baltikum glaubte man beispielsweise, dass Puschkaitis, der Gott der grünen Wildnis, im Hollerbusch wohnt. Aus Norddeutschland sind zahlreiche Sagen verbürgt, die den Strauch als Wohnstätte der Unterirdischen ausweisen. All diesen Wesen ist gemeinsam, dass sie das Leben ihrer menschlichen Nachbarn positiv, aber auch negativ beeinflussen können. Die Geister des hausnahen Holunders sind insofern durchaus vergleichbar mit den Laren, den Hausgeistern der römischen Religion. Wie diesen opferte man auch den Holunderwesen, um sich deren Segen zu sichern. Zu diesem Zweck goß man Milch und Bier über den Wurzelstock, deponierte Brot und andere Speisen. Der nordschleswigsche Pastor Troels Arnkiel berichtet Anfang des 18. Jahrhunderts davon, das die Menschen in Apenrade folgende Verse sprachen, wenn sie den Holunder stutzen wollten: „Frau Ellhorn gib mir was von deinem Holze, dann will ich dir von meinem auch was geben, wenn es wächst im Walde.“[5] Ellhorn beziehungsweise Elfenhorn nannte man die ob ihrer Zauberkraft gefürchtete Pflanze mitunter. Das Christentum maß ihr sowohl Tugenden als auch Schrecknisse zu. So soll sich einigen regionalen Erzählungen zufolge Judas an einem Holunder erhängt haben. Den durchaus schmackhaften Baumpilz Auricularia auricula-judae findet man vorwiegend am Holunderbusch. Noch heute heißt er im Volksmund „Judasohr“.[6]

Die Symbolkraft von Sambucus nigra könnte doppelgesichtiger nicht sein. Obwohl man ihn zu den besonders heiligen Pflanzen zählt, wird er im Volksglauben immer auch mit Hexerei und schwarzer Magie in Beziehung gesetzt. Es wird dringend davon abgeraten, unter einem Holunderstrauch einzuschlafen. Böse Träume wären die Folge, heißt es. Für Haus- und Schiffbau tauge sein Holz deshalb nicht, weil sich ansonsten eigentümliche und seltsame Dinge ereignen würden, die man lieber nicht erleben will.[7] Wohl wegen seiner Nähe zu den oben geschilderten Kräften der Unterwelt, wurde der Holunder vielfach mit Tod und Wiedergeburt in Zusammenhang gebracht. Der römische „Ethnologe“ Publius Cornelius Tacitus berichtet im ersten nachchristlichen Jahrhundert von der germanischen Sitte, Holunderholz bei der Beerdigung der Verstorbenen zu verwenden. Und noch bis in die jüngste Vergangenheit nahmen in Norddeutschland viele Bestatter mittels eines Holundersteckens bei den Toten Maß, um die Größe des Sarges zu bestimmen. Die alten Friesen sollen ihre Verstorbenen unter dem Strauch beerdigt haben. Und in Tirol sei es früher üblich gewesen, ein Kreuz aus Holunderzweigen in das frische Grab zu stecken. Schlug es Wurzeln und bildete Blätter, würde der Tote selig werden[8] – oder sollte man besser sagen – sich in der Pflanze reinkarnieren? Hans Christian Andersen hat in seinem Kunstmärchen „Mutter Holunder“ den Aspekt des menschlichen Lebenskreises, der sich im Wesen der Pflanze vergegenwärtigt, aufgegriffen und genial weitergesponnen. Zeitlos blickt Mutter Holunder, das eine Mal in kindlicher, das andere Mal in Gestalt der weisen Alten auf das Auf- und Verblühen menschlicher Existenz, auf die Schönheit und Anmut des immerwährenden Kreislaufs ewiger Wiederkehr: „‘Ja, so ist es!‘ sagte das kleine Mädchen im Baum. ‚Einige nennen mich Mutter Holunder, andere nennen mich Dryade, aber eigentlich heiße ich Erinnerung. Ich bin es, die in dem Baum sitzt, der wächst und wächst, ich kann mich erinnern, ich kann erzählen! Laß mich sehen, ob du deine Blüte noch hast.‘“[9]

 

Kost

Es ist bemerkenswert, dass bis auf Blüten und reife Früchte alles am Holunderstrauch für den menschlichen Verzehr giftig ist. Insbesondere die enthaltenen cyanogenen Glycoside sorgen vor allem bei empfindlichen Personen für Übelkeit, Erbrechen und krampfhafte Zustände. Auszüge aus den Blüten und der Saft der Beeren gelten allerdings als überaus wirksame volksmedizinische Heilmittel. Holunderbeeren sind reich an ätherischen Ölen, Vitamin C und anderen gesundheitsfördernden Substanzen. Sowohl Beeren als auch Blüten wirken schweißtreibend, fiebersenkend, krampflösend, entzündungshemmend und schmerzlindernd. Der schwarze Holunder ist also eine wahre Feld- und Wiesenapotheke, die ganz zu Recht mit der weisen Frau Holle der Volksmythologie verknüpft wird. Dass die weißen (Blüten) und schwarzen (Beeren) Gaben der Unterweltsgöttin darüber hinaus auch noch sehr schmackhaft sind, beweist eine Vielzahl von Rezepten. Eine kleine Auswahl soll dies verdeutlichen. Bekannt ist der vergorene Blütenaufguss, in Norddeutschland „Fliedersekt“ genannt: Zehn Liter Wasser werden mit einem Kilo Zucker und zweihundertfünfzig Millilitern Weinessig verrührt und kurz aufgekocht. Danach mengt man zwanzig Holunderblütendolden und den Saft von zwei Zitronen bei. Das Ganze zwei volle Tage an einem warmen Ort stehen lassen, dann abseihen und in Flaschen abfüllen. Nach drei Wochen kann das Gebräu erstmals gekostet werden und ist mehrere Jahre haltbar, wobei die Qualität, wie bei einem guten Wein, mit der Zeit zunimmt. Eine nichtalkoholische Variante des prickelnden Getränks erhält man, wenn man einige Dolden über Nacht in Apfelsaft einlegt, dann entfernt und den so entstandenen Kaltauszug 1:1 mit kohlensäurehaltigem Mineralwasser aufgießt. Lecker ist auch Pfannkuchenteig, der zuvor mit Holunderblüten angereichert wurde (grüne Stiele zuvor unbedingt entfernen). Ein fruchtiger Salatessig lässt sich aus Weinessig unter der Zugabe von Holunderblüten herstellen (Pflanzenteile nach drei Wochen entfernen). Der vor allem im Winter begehrte Holunderbeerensaft kann im vorgerückten Sommer folgendermaßen hergestellt werden: Zwei Kilo Beeren mit Hilfe einer Gabel von den Stielen entfernen, anschließend mit einem Liter Wasser etwa zehn Minuten lang köcheln lassen. Die Masse durch ein Sieb pressen, dass mit einem sauberen Geschirrtuch ausgelegt wurde. Dem so hergestellten Saft ein Kilo Zucker und den Saft von einer Zitrone beimengen. Abschließend in Flaschen abfüllen und kühl und schattig lagern.

Welf-Gerrit Otto

 

Anmerkungen

[1] Vgl. Bächtold-Stäubli 2008, IV: 362.

[2] KHM 24. Vgl. Grimm 2015: 139-143.

[3] Völuspa 51 (Der Seherin Weissagung), Ältere Edda. Zit. n. Simrock 1995: 19. Die Herleitung der Pflanzenbezeichnung von Holle bzw. Hel schließt allerdings auch die Wortherkunft von „hohl“ (cavus) nicht aus (vgl. Grimm 1854-1861, 1871, X: 1762). Denn Holle und Hel sind etymologisch verwandt mit Hölle, Höhle, Höhlung. Holunderäste sind bekanntlich hohl, entfernt man das Mark. Es lassen sich sehr schöne Flöten aus dem Holz fertigen.

[4] Grimm 1875-1878, II: 542.

[5] Zit. n. Bächthold-Stäubli 2008, IV: 263. Vgl. auch Grimm 1875-1878, II: 543.

[6] Vgl. Zerling 2013: 118f.

[7] Vgl. Beuchert 2004: 138.

[8] Vgl. Bächtold-Stäubli 2008, IV: 266.

[9] Andersen 1989: 182.

Verwendete Literatur