Abies

„O Tannebaum, o Tannebaum!
Du bist ein edles Reis!
Du grünest in dem Winter,
Als wie zur Sommerszeit!“

[Clemens Brentano, 1808]

Zwischen vierzig und siebenundvierzig Arten umfasst die Pflanzengattung Abies aus der Familie der Kieferngewächse. In Europa verbindet man mit dem Taxon insbesondere die Weißtanne (Abies alba), größte Baumart des Kontinents. Gemeinsam ist allen Vertretern dieser Gattung immergrüner Koniferen, dass ihre Stämme aufrecht in die Höhe ragen und seitwärts nadelbesetzte, auffallend horizontal und in Etagen angeordnete Äste ausbilden, deren symmetrischer Wuchs sich wipfelwärts verjüngt, was den Bäumen eine beinahe pagodenhafte Erscheinung verleiht. Später im Jahr reifen dann die charakteristischen Samenkapseln der Pflanze. Im Gegensatz zu Fichtenzapfen stehen die Zapfen der Tanne aufrecht auf den Zweigen und hängen nicht an ihnen hinab. Sie fallen auch nicht einfach wie Fichtenzapfen im Ganzen vom Baum und gefährden auf diese Weise stammnah operierendes Kleingetier und unbemützte Wandergesellen. Tannenzapfen lösen sich noch am Baum nach und nach in ihre einzelnen Segmente auf und verteilen so die Samen bedächtig über das Land. Zwanzig bis neunzig Meter Wuchshöhe und Stammstärken von mehreren Metern erreichen einige Exemplare großwüchsiger Arten unter günstigen Umweltbedingungen. Ein Lebensalter von zweihundert bis achhundert Jahren ist keine Seltenheit bei diesen Waldgiganten, sofern sie nicht bereits im jungen Alter dem Holzeinschlag zum Opfer fallen. Denn das recht leichte und trotzdem stabile Tannenholz ist als Baumaterial, insbesondere für anspruchsvolle Konstruktionen vielfältigster Art, vortrefflich geeignet und deshalb heiß begehrt. Aus diesem Grund finden sich die Bäume heute nicht mehr nur in ihrem angestammten Habitat in den montanen Höhenstufen der nördlichen Breiten, den alpinen Hochgebirgsregionen unterhalb der Baumgrenze. Mittlerweile gedeihen Tannen vielerorts unter sehr unterschiedlichen Bedingungen.

Mythos

Rund dreißig Millionen Weihnachtsbäume werden in Deutschland jeden Winter unter die Leute gebracht. Tendenz steigend.[1] Gegenwärtig ist die Nordmanntanne (Abies nordmanniana) im weihnachtlichen Baumkult der absolute Renner unter den Koniferen. Heimische Wohnzimmer, kirchliche Chorräume, Marktplätze, Einkaufszentren und Autobahnraststätten – von überall her blinken uns in der Adventszeit geschmückte und illuminierte Tannen und Fichten entgegen. Bürgermeister und Filialleiter präsentieren stolz die angeblich längsten und dicksten Exemplare in geradezu phallophorisch zu nennendem Eifer. Entweder man mag ihn oder man mag ihn nicht, den weihnachts unvermeidlichen Christbaum.

Eine mir vorzeiten nahestehende Frau hasste ihn derart, dass mir und anderen strikt untersagt wurde, einen Weihnachtsbaum, und sei er auch noch so bescheiden und winzig, in der gemeinsamen Wohnung aufzustellen. Für sie war er, wie sie es ausdrückte „inakzeptabel“. Inbegriff konformistischer Spießigkeit, Opium für das Volk und leistungsmindernder Tand. So wie Freunde, Musik und Philosophie überhaupt – leider. Da mit der Zeit sogar Bilder und andere stimmungsaufhellende Wohnaccescoires von der Großinquisitorin kompromisslos verbannt wurden, blieb mir gar nichts anderes übrig, als Reißaus zu nehmen, was in der Gaunersprache übrigens angeblich „in die Fichten gehen“ genannt wird.[2] Und tatsächlich verbrachte ich die Zeit nach der Trennung überwiegend in der Natur, die mir nach all dem erfahrenen Zweckrationalismus heilsam die intuitiven Aspekte des Daseins vor Augen führte.

Weltweit trifft man ihn inzwischen, den geschmückten Weihnachtsbaum. Von Kamtschatka bis Feuerland. Seinen Siegeszug um die Welt trat er von Mitteleuropa aus an. Im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert stellte man nachgewiesenermaßen im deutschsprachigen Elsass erstmals einen Weihnachtsbaum auf.[3] Im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts kam er mit deutschen Auswanderern nach Übersee. Allerdings kannte man bereits zu früheren Zeiten den Brauch, zu Weihnachten Tannenzweige in die Wohnstuben zu holen.[4] Populär wurde das Aufstellen von Weihanchtsbäumen allerdings erst im Zeitalter der Aufklärung. Bereits damals wurde von gelehrter Seite Kritik an dem heidnischen Firlefanz laut. Der Straßburger Professor Johann Conrad Dannhauer versuchte mit Nachdruck diesen „Kinderspielen“ Einhalt zu gebieten.[5] Doch beim einfachen Volk war der lutherische Theologe und Chefaufklärer ebenso erfolglos wie meine damalige Freundin bei mir. Denn der Geist der Aufklärung ist vielleicht gut gemeint, aber nichtsdestotrotz naseweis und blasiert angesichts der Großartigkeit und Vielfältigkeit unserer beseelten Welt. Er ist bisweilen so unspirituell und langweilig wie eine evangelische Autobahnkirche und trägt nur äußerst selten der Phantasie und Verspielheit des Menschen Rechnung, die zu allen Zeiten der Selbsterkenntnis stärkste Triebfedern waren.

Der Tannenbaum jedenfalls ist, wie auch andere immergrüne Holzarten, etwa Fichte, Wacholder oder Eibe, Sinnbild der Unvergänglichkeit des Lebens und seines Triumphs über den Tod. Das macht die Tanne auch ohne Christbaumschmuck zum wahrhaftigen Baum des Lebens, der sowohl sommers als auch winters grünt. Die mittwinterliche Wiederkehr der Sonne wird symbolisiert durch die brennenden Kerzen auf seinen Zweigen. Man könnte sogar behaupten, dass die Tanne für die Gesamtheit der Vegetation unseres Planeten und deren Eingebundensein in den Kreislauf der Wiedergeburten steht. Samsara, der immerwährende Zyklus des Seins, wie die Hindus sagen. Denn „Tanne“ leitet sich etymologisch vom mittelhochdeutschen „Tan“ ab, was allumfassend „Wald“ bedeutet.[6]

Der Lebens- oder Weltenbaum findet sich als Mythenmotiv in vielen Kulturen und Religionen rund um den Globus. Er ist ein uraltes Symbol kosmischer Ordnung. Sein Stamm bildet als „axis mundi“ den Mittelpunkt der Welt und verbindet Himmel, Erde und Unterwelt miteinander. Darin gleicht er dem Weltenberg Meru, der von Hindus und Buddhisten als Zentrum des Universums betrachtet wird. In der biblischen Genesis ist vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse sowie vom Baum des Lebens die Rede. Beide gedeihen im Garten in Eden. Die Früchte vom Baum der Erkenntnis zu verspeisen war den ersten Menschen strikt verboten. Dass sie es, verführt von der listigen Schlange, dennoch taten, quitierte der zornige Gott des Alten Testaments bekanntlich mit dem Rauswurf aus dem Paradies sowie dem Eintrag der Erbsünde im Vorstrafenregister der Menschheit.[7]

Die Babylonier verehrten den Heiligen Baum von Eridu, dessen Wurzeln ins Totenreich reichten und dessen Wipfel die Gestirne trugen. Gleiches behaupteten die Alten Ägypter vom Isched-Baum. Und der buddhistischen Überlieferung zufolge erlebte Buddha unter dem Boddhibaum meditierend seine Erleuchtung. In der archaischen Ekstasetechnik des Schamanismus der zentral- und nordasiatischen Völker spielt der Weltenbaum eine herausragende Rolle. An seinem Stamm klettert der Schamane hinab in die Sphäre der Geister, etwa um Krankheiten zu heilen oder den Herrn der Tiere um eine reiche Jagdbeute zu bitten.[8]

Auch die nordische Mythologie wird bisweilen mit schamanistischen Praktiken in Beziehung gesetzt. Sogar unser Weihnachtsfest soll im Kern schamanistisch sein.[9] Und wirklich erinnert die geschmückte Tanne an den germanischen Weltenbaum „Yggdrasil“, der seine ausladenden Zweige über die mehr als neun Sphären des Universums ausbreitet. Midgard, Heimat der Menschen, befindet sich ebenso wie Utgard (Außenwelt), und Jötunheim (Welt der Riesen) in seinem Zentrum. Im Wipfel des Baums kämpfen, zechen und schmausen die Götter im himmlischen Asgard. Und an seinen drei großen Wurzeln ist unter anderem Helheim, das Reich der Unterweltsgöttin Hel zu finden. Hoch in der Baumkrone sitzt ein Adler ohne Namen im Gezweig, zwischen seinen Augen späht der Habicht Vedrfölnir, zweifelohne eine Doppelwesen geistiger Prägung. Tief unten nagt Drache Nidhöggr, der hasserfüllt Schlagende, geifernd an den Wurzeln des Weltenbaums. Bei der Götterdämmerung wird er es sein, der die Eid- und Ehebrecher am Totenstrand Nastrand in Fetzen reisst.

Ratatöskr, ein keckes Eichhörnchen, klettert zwischen Wipfel und Wurzel hin und her, um Gehässigkeiten zwischen Adler und Drache auszutauschen – zwischen Über-Ich und Es gleichermaßen. Vier Hirsche tun sich an den jungen Trieben des Baums gütlich, während zwei Schlangen es dem Drachen gleichtun und die Wurzeln des Baums bekauen. Am Urdbrunnen unter dem Wurzelwerk kauern die drei Nornen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und spinnen das Schicksal jedes einzelnen Menschen. Ebenfalls zu Füßen Yggdrasils sprudelt die Quelle Mimirs, einem Wesen, das für seine Weisheit und sein Wissen bekannt ist, die es aus den Tiefen seines Brunnens schöpft. Odin/Wotan, germanischer Göttervater und neben weiteren Funktionen nicht zuletzt auch Gott der Wissenschaft und Literatur, trinkt dieses Wasser. Um Weisheit zu erlangen, vollzieht er am Stamm des Weltenbaums ähnlich einem indischen Sadhu ein asketisches Opferritual, das durchaus der christlichen Kreuzigung gleicht. In der isländischen Edda heisst es:

„Ich weiß, daß ich hing am windigen Baum / Neun lange Nächte, / Vom Speer verwundet, dem Odin geweiht, / Mir selber ich selbst, / Am Ast des Baums, dem man nicht ansehn kann, / Aus welcher Wurzel er sproß. // Sie boten mir nicht Brot noch Met; / Da neigt‘ ich mich nieder / Auf Runen sinnend, lernte sie seufzend: Endlich fiel ich zur Erde […] // Zu gedeihen begann ich und begann zu denken, / Wuchs und fühlte mich wohl. Wort aus dem Wort verlieh mir das Wort, / Werk aus dem Werk verlieh mir das Werk.“[10]

Auch wenn der Weltenbaum der nordischen Überlieferung in populären Kontexten zumeist als Esche, Eiche oder Eibe beschrieben wird, ist die exakte Baumart keineswegs durch schriftliche Quellen oder archäologische Funde belegt. Vieles spricht dafür, dass es sich bei Yggdrasil nach eddischem Verständnis um einen Nadelbaum gehandelt haben könnte. Aber das ist eigentlich auch gleichgültig. Auf Island, wo die Bücher der Edda im Mittelalter verfasst wurden, gab es im Übrigen weder Eschen noch Eichen und Eiben. Im südlichen Germanien hingegen, also in unserer Gegend, ist die Vegetation artenreicher. Yggdrasil ist das Leben selbst. Kultisch verehrt bis in unsere Tage im geschmückten Weihnachtsbaum. Weltenbaum, Weltenachse, Wirbelsäule, Wortwirbel, Jahreskreis.

Kost

Zugegebenermaßen sind Tannen und andere Nadelbäume nicht unbedingt dafür bekannt, kulinarische Offenbarungen bereitzuhalten. Trotzdem lässt sich einiges mit ihnen auch in der Küche machen. Eine Heidelberger Biologin hat sogar ein Buch zu dem Thema verfasst, was man mit dem Weihnachtsbaum nach den Festtagen so alles anstellen kann.[11] Folgende Rezeptideen lassen sich sowohl mit Tannen als auch mit Fichten umsetzen. Nur mit der Eibe sollte man derlei unterlassen. Es könnte sonst sein, dass einem das letzte Stündlein schlägt und man unter Herzrasen und Atemnot qualvoll den Löffel abgibt. Die Frühlingszeit, in der die Bäume neue Triebe hervorbringen, ist ideal für die Ernte der vielfältig einsetzbaren Nadeln, die unter anderem gesundheitsfördernde Enzyme enthalten.

Doch auch im Winter, wenn es schneit, ist gegen eine Verwendung derselben nichts einzuwenden. Vor allem beliebt bei Outdoor-Freaks ist ein frisch aufgebrühter Tannennadeltee. Brodelndes Wasser und zwei Teelöffel Nadeln, mehr braucht es nicht für eine Tasse dieses recht asketischen Heißgetränks, das die Durchblutung anregt und gut gegen Erkältungskrankheiten ist. Aufwendiger ist da schon die Herstellung eines Tannensirups. Dazu kocht man drei Handvoll Nadeln zusammen mit etwa einem Liter Wasser rund zwanzig Minuten. Anschließend werden die Nadeln entfernt und das verbleibende Wasser im Verhältnis Eins zu Eins mit Gelierzucker vermischt und so lange eingekocht, bis sich eine dickflüssige Konsistenz ergibt.

Außerdem kann man mit den getrockneten und zerstoßenen Tannennadeln ein delikates Kräutersalz herstellen. Eingelegt in Sonnenblumenöl und mehrere Wochen durchgezogen, ergeben die kleingeschnittenen Zweige ein vorzügliches Badeöl, das man auch in der Duftlampe verdampfen kann, um sich so den Geruch des Waldes nach Hause zu holen.

[1] Im Jahr 2000 waren es ungefähr 24 Millionen. Mit den Jahren hat der Absatz stetig zugenommen. 2017 wurden in der Bundesrepublik etwa 29,5 Millionen Weihnachtsbäume verkauft. Quelle: Statista 2018.

Welf-Gerrit Otto

 

Anmerkungen

[2] Vgl. Beuchert 2004: 103.

[3] Vgl. Bächtold-Stäubli 2008, IX: 903.

[4] Sebastian Brant (1494) und Geiler von Kaisersberg (1508) berichten davon. Vgl. Bächtold-Stäubli 2008, IX: 905.

[5] Vgl. Beuchert 2004: 101f.

[6] Vgl. Laudert 2004: m. Baumbuch Malte

[7] Genesis 3.

[8] Vgl. Eliade 2001.

[9] Vgl. Rätsch 2014: 121-138.

[10] Rúnatal þáttr Óðinn (Odins Runenlied), Ältere Edda in der Übersetzung von Simrock 1995: 65.

[11] Vgl. Grambow 2015.

Verwendete Literatur