In den Tagen des Jahreswechsels, am Ende eines alten Durchgangs, wird ein neuer Anfang gesät. Ein schöpferischer Akt ist dies allemal. Und hier und jetzt spannt sich der Bogen zu den Künsten der Menschen, ihrer Künste im engeren Sinne. Ihres kreativen und sinnstiftenden Ausdrucks, der nicht eindeutig festgelegt ist durch vordergründige Funktionen. Wie unsere Welt in ihrer Gesamtheit im Übrigen auch durch das Fehlen eindeutig rationaler Funktionen gekennzeichnet ist, die zweck- und zielführend sind. Der Mensch als Schöpfer der Menschenwelt in Entsprechung zur großen Welt da draußen. Mikrokosmos entspricht Makrokosmos sozusagen. Nimmt es da wunder, dass vielen von uns der Winter, diese lichtlose und kalte Zeit zwischen den Jahren, als Phase der inneren Einkehr gilt, die einen kreativen Schaffensprozess auslöst?
In alten Tagen, als es noch keine ausdifferenzierte Arbeitsteilung gab, waren die Leute insbesondere im Winter künstlerisch aktiv. Sommers war daran aufgrund der Fülle der zum Lebensunterhalt erforderlichen Verrichtungen nicht zu denken. Aus Nacht und Kälte sind uns Menschen viele Bilder, Schnitzereien, Geschichten, Tänze, Gesänge und dergleichen mehr geboren worden. Allen, die ihren Mitmenschen etwas zu sagen haben in Bild, Musik, Tanz und Wort ist die Stille Anfang und Beginn. Sie ist das leere Blatt, welches es zu füllen gilt.
Der grönländisch-dänische Ethnologe und Polarforscher Knud Rasmussen begegnete bei einer seiner ausgedehnten Expeditionen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf der eisigen Insel Iŋaliq in der Beringstraße der alten Inuitfrau Majuaq, die ihm folgende Geschichte zur Bedeutung der Stille im künstlerischen Schaffensprozess schenkte. Bemerkenswert an Majuaqs Erzählung ist, dass sie Kunst als Bedingung einer besseren Welt begreift. Mögen die Worte der alten Inuitfrau uns in dem bestärken, was wir zu tun haben:
„In alten Tagen feierten wir jeden Herbst große Feste zu Ehren der Seele des Wales, und diese Feste mussten stets mit neuen Liedern eröffnet werden. Man sollte die Geister mit neuen Worten anrufen; alte Lieder durften nie gesungen werden, wenn Männer und Frauen tanzten, um den großen Fangtieren zu huldigen. Und da hatten wir den Brauch, daß in jener Zeit, in der die Männer ihre Worte zu diesen Hymnen erfanden, alle Lampen ausgelöscht werden mußten. Es sollte dunkel und still im Festhaus sein. Nichts durfte stören, nichts zerstreuen. In tiefem Schweigen saßen sie in der Dunkelheit und dachten nach. Diese Stille war es, die wir Qarrtsiluni nannten. Sie bedeutet, daß man auf etwas wartet, das aufbrechen soll. Denn unsere Vorväter hatten den Glauben, daß die Gesänge in der Stille geboren werden, während alle sich nur dazu anstrengen, schöne Gedanken zu denken. Dann entstehen sie im Gemüt der Menschen und steigen herauf wie Blasen aus der Tiefe des Meeres, die Luft suchen, um aufzubrechen. So entstehen die heiligen Gesänge.“1
1 Majuaq zit. n. Rasmussen 1996: 20f. [Rasmussen, Knud (1996): Die Gabe des Adlers. Eskimomythen aus Alaska. Berlin: Clemens Zerling].