Wir haben nichts dazugelernt“

[Pablo Picasso beim Betrachten der steinzeitlichen Höhlenmalereien von Lascaux]

Wie zahlreiche Künstler seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis in unsere Tage, war auch der Maler und Bildhauer Pablo Picasso zutiefst beindruckt von steinzeitlicher und außereuropäischer Kunst vermeintlich primitiver Jäger- und Sammlerkulturen.

Musik, Tanz, Malerei und Bildhauerei sind Errungenschaften der Altsteinzeit – und zwar nicht als tumbes Geschmiere und geistloses Getrommel und Gegröle, sondern bereits voll entfaltet und der Gegenwart in jeder Hinsicht ebenbürtig. Davon zeugen beispielsweise die rund dreißigtausend Jahre alten Malereien der südfranzösischen Chauvet-Höhle oder die in der Schwäbischen Alb entdeckte älteste Flöte der Welt, die das Alter der Chauvet-Höhlenmalereien noch um etwa fünftausend Jahre übertrifft. Die Gesellschaften des Paläolithikums waren keineswegs Naturvölker im Sinne kulturlosen Barbarentums, wie manch einer glauben mag. Alles, was den Menschen aus heutiger Sicht zum Menschen macht, war bereits damals vorhanden. Das gilt im besonderen Maße für die Kunst.

Wildbeuterkulturen – also Jäger, Fischer und Sammler – werden als „aneignende Kulturen“ bezeichnet, im Gegensatz zu sogenannten „erzeugenden Kulturen“, beispielsweise Viehzüchter und Ackerbauern. Auch heute leben auf unserer Erde noch ein paar unkontaktierte Wildbeuterkulturen, vornehmlich in den unzugänglichen Tiefen nebelverhangener Regenwälder in Afrika, Südamerika und Papua-Neuguinea. Die Kunst außereuropäischer Wildbeuter der Gegenwart sowie die prähistorische Kunst Europas indes haben Generationen von westlichen Künstlern inspiriert.

Solche Rückgriffe auf vergangene Entwicklungsstufen gibt es in der Kulturgeschichte der Völker immer wieder. Bereits die Renaissance des 15. und 16. Jahrhunderts hatte sich auf die griechische und römische Antike bezogen und war diesbezüglich keineswegs ein Rückschritt, sondern ein Schritt vorwärts gewesen. Der Primitivismus der Gegenwart und jüngsten Vergangenheit brach nicht mit Traditionen, sondern mit überkommenen Konventionen. Eine bedeutende Inspirationsquelle bezogen Künstler von fernen Völkern und Zeiten, die sie als unverfälscht, unverdorben und natürlich betrachteten. Vater der Idee vom „Edlen Wilden“ war zweifelsohne der Philosoph Jean-Jacques Rousseau, der dieser Vorstellung bereits im 18. Jahrhundert Ausdruck verlieh.

Paul Gaugin war einer der ersten, die diese Idealisierung in die europäische Malerei trugen. Der Maler verließ Ende des 19. Jahrhunderts die Kunstmetropole Paris, um in der Inselwelt der Tropen sein Paradies zu finden, was ihn dann auch das Leben kosten sollte. Allerdings war Gaugin an der reichen polynesischen Kunst, die ihn in Ozeanien umgab, nicht sonderlich interessiert. Für ihn war sie nicht mehr als schmückendes Ornament, exotischer Zierrat.

Picasso sah das anders. Mit Picassos Wertschätzung der sogenannten primitiven Kunst wird eine entscheidende Wende in der Entwicklung des Primitivismus eingeläutet. Picasso und die Kubisten schufen den Primitivismus des 20. Jahrhunderts nicht als Imitation, sondern als ureigenen Ausdruck und rückten überdies das Augenmerk erstmals auch auf einzelne Werke indigener Künstler. Ein Schritt, der überfällig war, und die Welt ein Stück weit zusammenrücken ließ.

Dr. Knottos Koole Kunst Kolumne 6