Tilia

„Wo wir uns finden wohl unter Linden zur Abendzeit.“

[Anton Wilhelm von Zuccalmaglio: Kein schöner Land in dieser Zeit, 1840]

Sommer-Linde (Tilia platyphyllos), Johann Georg Sturm: Deutschlands Flora in Abbildungen, 1796

Insbesondere in der gemäßigten und subtropischen Zone findet sich die Pflanzengattung der Linden aus der Unterfamilie der Lindengewächse, die ihrerseits der Familie der Malvengewächse angehören. Zwanzig bis fünfundvierzig Arten zuzüglich einer Vielzahl zumeist natürlich entstandener Hybriden zählt die Gattung, deren winterkahle Vertreter vornehmlich in Zentral- und Ostasien beheimatet sind. Bei uns in Mitteleuropa kommen im Wesentlichen nur zwei Lindenarten vor: die Sommerlinde (Tilia Platyphylles) und die Winterlinde (Tilia cordata). In ihrer Erscheinung ähneln beide Baumarten einander stark. Allerdings sind die Blätter der Sommerlinde beidseitig weich behaart, die der Winterlinde nur an den Oberseiten. Wechselständig und zweizeilig angeordnet sind die Laubblätter beider Arten. Sie weisen eine herzförmige, an den Rändern gezackte Gestalt auf. Die Borke ist von dunkler bis grauer Färbung und leicht gerippt. Linden können eine Wuchshöhe von mehr als dreißig Meter und einen Stammumfang von etwa zwei Meter erreichen. Ausnahmen bestätigen allerdings die Regel: Die Linner Linde im Schweizer Kanton Aargau hat beispielsweise einen Stammumfang von elf Metern. Und auch die sogenannte Gerichtslinde im schleswig-holsteinischen Bordesholm erfreut sich beträchtlicher Ausmaße. Tausend Jahre und älter sind einige Baumexemplare. Um Mittsommer erscheinen die stark duftenden zwittrigen Blüten. Bei der Sommerlinde etwas früher, bei der Winterlinde etwas später. Die sich im Spätsommer ausbildenden Früchte sind bei der Sommerlinde deutlich gerippt, bei der Winterlinde eher kugelförmig. Lindenbäume bevorzugen tiefgründige und nährstoffreiche Böden, kommen aber auch mit mäßig saurem und steinigem Untergrund zurecht.

 

Mythos

Während meines Studiums verging kaum eine Sommerwoche, in der ich nicht mit Freunden im Kanu unterwegs war. Das tat unseren Studien indes keinen Abbruch. Im Gegenteil. Wir lernten einiges auf unseren häufigen Expeditionen, das uns auch später nützlich sein sollte. Und für unseren Umgang miteinander und mit der Welt da draußen waren diese Touren auch eine gute Sache, wie ich heute resümiere. Unser Revier war der Oberlauf der Lahn, einem Nebenfluss des Rheins. Bald kannten wir jede kleine Insel, jeden abzweigenden Mühlbach. Zu dieser Zeit waren dort noch kaum andere Wasserwanderer unterwegs. Kanufahren war damals noch kein Trendsport, und so hatten wir den wildromantischen Fluss, der sich durch das waldreiche hessische Mittelgebirge schlängelte und dabei Auen und Stromschnellen passierte, die meiste Zeit für uns ganz allein. Oft schlugen wir unser Nachtlager zu dieser Zeit unter einem alten Lindenbaum auf. Wir zogen den Kahn ans Land, ordneten unsere Ausrüstung und bauten mit Stöckern und Segeltuch einen Unterschlupf an seinem Stamm. Ich erinnere mich noch gut an den linden Duft der mittsommerlichen Blütenpracht, der uns bei unseren Gesprächen und unserem Gitarrenspiel am Lagerfeuer umwehte und uns nächtens einen behüteten Schlaf bescherte.

Wohl kaum ein anderer Baum ist im deutschsprachigen Raum so sehr mit dem Begriff von Heimat und Geborgenheit verbunden wie die Linde. Zahlreiche Dörfer und Städte sind nach ihr benannt – etwa Lindenau, Leipzig oder Lindenberg. Weit über tausend Ortsnamen beziehen sich in Deutschland auf die Linde.[1] Auch die erfolgreiche Fernsehserie „Lindenstraße“ bedient sich dieser Assoziation bereits in ihrem Namen. Im Deutschen hat das Adjektiv „lind“ die Synonyme „mild“, „zart“ und „wohltuend“[2] und erinnert damit unmittelbar an den Geruch und die phytotherapeutische Wirkung von Lindenblüten. Dass der Baum so stark mit heimatlicher Geborgenheit in Zusammenhang gebracht wird, ist sicher auch auf das Zeitalter der Romantik zurückzuführen. Fast jeder kennt hierzulande Wilhelm Müllers Gedicht „Der Lindenbaum“ durch die Vertonung von Franz Schubert aus dem Jahr 1827: „Am Brunnen vor dem Thore / Da steht ein Lindenbaum / Ich träumt‘ in seinem Schatten / So manchen süßen Traum […].“[3] Auch der eingangs zitierte Vers aus Anton Wilhelm von Zuccalmaglios Volkslied „Kein schöner Land in dieser Zeit“ steht für die Lindenbegeisterung des 19. Jahrhunderts. Allerdings grünten Lindenbäume bereits vor der Romantik im Zentrum mitteleuropäischer Siedlungen und dienten als Fest- und Versammlungsorte. Die mittelalterliche Gerichtslinde ist sprichwörtlich. Damals war es üblich, das Gericht unter freiem Himmel abzuhalten. Linden eigneten sich dafür besonders gut, weil sie schnell wuchsen, eine breite Krone als Regen- und Sonnenschutz ausbildeten und man außerdem annahm, sie würden gegen Blitzschlag schützen.[4] Darüber hinaus verband man mit dem Baum vielfältige magische Vorstellungen. Und so pflanzte man fleißig Lindenbäume, die aufgrund ihrer hohen Lebenserwartung noch in unseren Tagen manchen Dorfplatz schmücken.

In vorchristlicher Zeit war der Baum der germanischen Göttin Frigga geweiht. Nach der Christianisierung übertrug man viele ihrer Attribute auf Maria, die Mutter Gottes. In katholischen Gegenden finden sich deshalb in vielen altehrwürdigen Linden noch heute Marienstatuen, die den Gläubigen Schutz und Trost spenden.[5] Im Volksglauben Europas gilt die Linde als Wohnstatt verschiedener Baumgeister, auch als Sammelplätze von Hexen werden die Bäume in der älteren Literatur beschrieben. Andererseits sollen Linden auch gegen Hexen schützen. Die Menschen pflanzten sie als Schutzbäume gegen jede Art von Unheil. Zu bestimmten Zeiten, in denen man den Umtrieb böser Mächte wähnte – etwa an Walpurgis oder in der Mittsommernacht – steckte man abgebrochene Lindenzweige zur Abwehr an alle möglichen Orte in Haus und Hof. Verzaubertes Vieh wurde mit getrockneten Lindenbast beräuchert, und Lindenasche hielt angeblich Ungeziefer von den Äckern fern.[6] Die Milde und Zartheit der linden Linde hat auch die Nibelungensage inspiriert, die im südgermanischen und skandinavischen Raum vielfach interpretiert wurde und ihre populärste schriftliche Fixierung im mittelhochdeutschen Nibelungenlied zu Beginn des 13. Jahrhunderts fand. Nachdem Siegfried den Drachen getötet hatte, badete er in dessen Blut und wurde dadurch unverwundbar. Oder vielmehr fast unverwundbar. Denn beim Bade war ein Lindenblatt zwischen seine Schultern gefallen. Diese Stelle blieb vom magischen Blut des Ungeheuers unberührt und folglich zeitlebens verletzbar. Zart und lind war die Haut des Helden dort, wo sich das Blatt befunden hatte. Später wurde Siegfried durch den Speer seines Widersachers Hagen von Tronje hinterrücks an ebendieser Stelle tödlich verwundet.[7]

Doch ist die Linde auch ein Baum der Liebe und der Treueschwüre. Etwa zur Zeit der Niederschrift des Nibelungenliedes dichtete Walther von der Vogelweise eines seiner bekanntesten Liebeslieder: „Under der linden an der heide, dâ unser zweier bette was.“ Die Linde ist allerdings beim Minnesänger Walther nicht allein literarischer Topos. Sie ist nicht nur idealisierte Naturschilderung und locus amoenus, lieblicher Ort. Als Gerichtslinde fungierte der Baum lange Zeit auch als Ort von Verlobungen und Hochzeiten. Anschließend wurde selbstverständlich ausgiebig gefeiert und getanzt, was die Tradition der Tanzlinden begründet haben mag, die sich vielerorten in Mitteleuropa noch heute finden lassen. Vermählungen unter einer Linde galten im Mittelalter als absolut bindend.[8] Im Grimmschen Märchen „Die wahre Braut“ findet sich ein Wiederhall dieser Vorstellung: „Bald ging der Ruf von der Schönheit und dem Reichtum des Mädchens durch die ganze Welt. Alle Tage meldeten sich Freier, aber keiner gefiel ihr. Endlich kam auch der Sohn eines Königs, der ihr Herz zu rühren wußte, und sie verlobte sich mit ihm. In dem Schloßgarten stand eine grüne Linde, darunter saßen sie eines Tages vertraulich zusammen, da sagte er zu ihr: ‚ich will heimziehen und die Einwilligung meines Vaters zu unserer Vermählung holen; ich bitte dich, harre mein hier unter dieser Linde, in wenigen Stunden bin ich wieder zurück.‘ Das Mädchen küßte ihn auf den linken Backen und sprach: ‚bleib mir treu und laß dich von keiner andern auf diesen Backen küssen. Ich will hier unter der Linde warten, bis du wieder zurückkommst.‘“[9]

 

Kost

Lindenblüten zählen zu den bekanntesten Hausmitteln. Die Pflanzendroge ist reich an ätherischen Ölen, Glykosiden und Schleimstoffen und wird bei Erkrankungen der Atemwege, etwa bei Husten, Schnupfen und Heiserkeit, aber auch bei der Behandlung von Magenbeschwerden erfolgreich eingesetzt. Sie wirkt beruhigend und krampflösend. Bei Unruhezuständen und Schlafstörungen hilft ein warmes Bad aus Lindenblütenextrakt. Im Sommer sammelt man die süßlich duftenden, frisch aufgeblühten Blütenstände samt ihrer zungenförmigen Deckblätter. Die Ernte läßt sich am besten auf einem großen Tuch an einem schattigen Ort zum Trocknen ausbreiten. Nach der Trocknung werden die Blüten grob zerkleinert und in Schraubdeckelgläser abgefüllt. Haltbar ist der fertige Tee dann etwa ein Jahr. Aus den mittsommerlichen Blüten lässt sich auch eine erfrischende Limonade herstellen: Dazu gibt man vier Handvoll frisch aufgeblühter Lindenblüten in einem Topf mit zwei Litern Wasser. Die Mischung wird kurz aufgekocht und dann über Nacht stehen gelassen. Am nächsten Morgen wird der Auszug durch ein Sieb gegossen und anschließend mit fünf Esslöffeln Honig, dem Saft zweier Zitronen und einem Liter Apfelsaft vermengt. Fertig ist das sommerliche Erfrischungsgetränk. Bis Ende Juni können die jungen Lindenblätter zu einem schmackhaften Salat verarbeiten oder – unter Zugabe von Zwiebel, Salz und Pfeffer – als Spinatgemüse gedünstet werden. Später im Jahr sind die Blätter für diese Rezepte allerdings ungeeignet. Dann kommt die Zeit der Lindenfrüchte, die etwa zwei Wochen nach der Blüte erntereif sind. Die noch zarten Früchte werden als sogenannte Lindenkapern in einem Sud aus Essigwasser eingelegt. Eine Handvoll entstielter Früchte kocht man zu diesen Zweck zusammen mit einem Teelöffel Salz, einem halben Teelöffel Zucker, hundertfünfundzwanzig Millilitern Wasser und hundertfünfundzwanzig Millilitern gutem Essig etwa zwei Minuten weich. Das Ganze anschließend in unmittelbar zuvor sterilisierte Schraubdeckelgläser abfüllen.

Welf-Gerrit Otto

 

Anmerkungen

[1] Vgl. Brunner 2012.

[2] Vgl. Grimm 1854-1961, 1971, XII: 1021ff.

[3] Zu Schuberts Liederzyklus „Winterreise“ (op. 89, D 911) vgl. auch Bostridge 2015.

[4] Vgl. Lück 2004, II: 174.

[5] Vgl. Zerling 2013: 160.

[6] Vgl. Bächtold-Stäubli 2008, V: 1306f.

[7] Vgl. Nibelungenlied, 16. Aventüre. Das Lindenmotiv des Nibelungenliedes ist sicher ein Eldorado für Tiefenpsychologen.

[8] Vgl. Zerling 2013: 161.

[9] KHM 186. Grimm 2015: 845.

Verwendete Literatur