„Jedes Mal, wenn ich ins Meer gleite, ist es, als würde ich nach Hause kommen“

[Sylvia Earle, Ozeanografin]

Als die spätere Ozeanografin und Umweltaktivistin Sylvia Earle im Alter von etwa drei Jahren am Strand von New Jersey von einer Welle verschluckt und von ihrer Mutter anschließend aus dem Wasser gezogen wurde, war das Kind hellauf begeistert und wollte sofort wieder zurück ins Meer. In der Retrospektive erklärt die heute 87-Jährige, dass sie damals bereits ihr Lebensziel vor Augen hatte, nämlich, so viel Zeit wie möglich unter Wasser zu verbringen.

Nach Hause kommen, wenn man ins Meer eintaucht – das ist nicht weiter verwunderlich, bedenkt man, dass unsere vorgeburtliche Phase in der flüssigkeitsgefüllten Fruchtblase im Mutterleib stattfand. Die Individualentwicklung, die Ontogenese, entspricht darüber hinaus der Entwicklungsgeschichte allen Lebens, der Phylogenese.

Der Landgang des Lebens beschreibt jene Phase, in der Lebewesen erstmals das trockene Land besiedelten und gleichsam die globale Fruchtblase der Meere verließen. Durch fossile Belege relativ gut dokumentiert ist der Landgang der Pflanzen, der von den meisten Forschern heute auf die Zeit vor 480 bis 460 Millionen Jahren ins frühe Ordovizium datiert wird. Wirbeltiere verließen das Wasser erstmals im späten Devon, also vor etwa 400 bis 350 Millionen Jahren. Wasser ist demnach unserer aller Wiege – als Individuum ebenso wie als Taxon.

Und was noch bemerkenswerter ist: Wir sind Wasser. Der Körper eines Erwachsenen besteht zu rund 50 bis 65 Prozent aus diesem Element, der Körper eines Säuglings sogar zu 70 bis 80 Prozent. Zu 99 Prozent aus Wasser besteht übrigens das menschliche Auge. Wer hätte das gedacht?

So wie der Mensch überwiegend aus Wasser besteht, so verhält es sich auch mit unserem sprichwörtlich blauen Planeten – und rechnerisch zwar ziemlich genau. Mehr als 70 Prozent der Erdoberfläche sind von den Weltmeeren bedeckt. Flüsse, Seen und andere Binnengewässer sind hierbei noch nicht eingerechnet. Wie die Ontogenese der Phylogenese entspricht, so entspricht der Makrokosmos Erde dem Mikrokosmos Mensch.

Das ist beeindruckend und mir fällt spontan ein Gedicht von Heinrich Heine dazu ein: „Das Fräulein stand am Meere und seufzte lang und bang. Es rührte sie so sehre der Sonnenuntergang.“

Von der Naturwissenschaft springen wir zur nicht minder bedeutungsvollen Kulturwissenschaft. Bereits früh erkannten die Menschen die lebenswichtige Bedeutung des Wassers. Wasser ist seit Urzeiten nicht allein Lebensgrundlage, sondern beispielsweise auch Verkehrsweg. Die ersten Fahrzeuge der Menschheit waren Boote, respektive Einbäume. Meere und Flüsse ermöglichten kulturellen Austausch, Ausgangsort der Sesshaftigkeit der Menschheit in der Jungsteinzeit waren insbesondere die Ufer von Gewässern.

Was wundert es da, dass das Wasser auch den Geist unserer Altvorderen beflügelte, und das nicht erst seit dem Zeitpunkt, als es erstmals in Form von Wein und Bier genossen wurde. Aufgrund seiner umfänglichen Bedeutung wurde es von den antiken Philosophen zu den vier Urelementen gezählt. Der vorsokratische Naturphilosoph Thales von Milet betrachtete Wasser gar als Urstoff allen Seins.

Eine zentrale Bedeutung spielt Wasser auch in den Mythologien und Religionen der Völker. Die vorchristlichen pantheistischen Religionen verehrten Quellen und andere Gewässer weltweit als Heiligtum, auch in unserer Gegend. Sagen und Märchen berichten von den noch ungeborenen Kindern, die in verborgenen Tümpeln im Wald hausen, umgeben von Nixen und Wassermännern.

Doch Wasser ist immer auch bedrohlich, gerade in Zeiten rasanten Klimawandels. Entweder es gibt zu viel davon (Anstieg des Meeresspiegels) oder es wird knapp. Weltweit haben rund zwei Drittel der Weltbevölkerung mindestens einen Monat im Jahr nicht ausreichend Wasser zur Verfügung. Zwei bis drei Milliarden Menschen leiden vier bis sechs Monate im Jahr unter schwerer Wasserknappheit, etwa eine halbe Milliarde Menschen sogar ganzjährig. Auch hierzulande werden die Sommer heißer und trockener, gleichzeitig türmen sich die Wassermassen vor den Deichen.

Denken wir Wasser groß, ist es immer Meer/mehr. Und das beindruckt uns. Wir fühlen uns einerseits klein und bedeutungslos angesichts seiner schier endlosen, nur vom Horizont gezirkelten Ausdehnung. Andererseits fühlen wir uns geborgen, sozusagen pränatal erinnert an die Wärme und Einheit im Mutterleib, an unsere Verbundenheit mit allen Lebewesen und unserem Heimatplaneten. Das Meer/mehr bedeutet uns aber immer auch Entwicklung, wie eingangs beschrieben.

Und diese drei Erkenntnisse, nämlich die Möglichkeit persönlicher Entwicklung bei gleichzeitiger Begrenztheit sowie allumfassende Geborgenheit infolge globalen Eingebundenseins, sind vielleicht die wichtigsten, lehrreichsten und tröstlichsten Erfahrungen, die ein Mensch machen kann.

Nimmt es da wunder, dass die beiden Künstler Alex Blaschke und Andreas Kleese sich dem Thema Meer und seiner mythischen Dimension in ihren Gemälden und Fotografien derart leidenschaftlich und aus unterschiedlichster Perspektive genähert haben? Dass die Bilder an unterschiedlichen Orten in Carolinensiel gezeigt werden, ist dabei ein besonderer Kunstgriff. Die Kunstwerke werden dabei gleichsam rituell an der Küste verortet.

Rethink – Wege zum Meer“ ist eine Open-Air-Ausstellung über das Finden der bewussten und unbewussten Wege zum Meer – noch bis zum 8. Oktober 2023 zu besichtigen im Nordseebad Carolinensiel.  

Welf-Gerrit Otto, August 2023 (Dr. Knottos Koole Kunst Kolumne 20)