Pandemischer Almanach: Ansteckende Ideen zur Zukunft der Arbeit

Mausefalle bleibt Mausefalle. Mit oder ohne Elektronik“ [Werner Mitsch]

Unsere Welt wandelt sich derzeit rasant. Der erst vor wenigen Jahrzehnten einsetzende Prozess der Automatisierung und Digitalisierung taktet inzwischen weite Bereiche sowohl der Arbeitswelt als auch des Privatlebens. Digitalität am Arbeitsplatz folgt vielerorts noch immer den Vorgaben der Leistungsgesellschaft sowie dem Credo wirtschaftlicher Gewinnmaximierung, doch im Zuge der Coronakrise rücken wieder vermehrt alternative Nutzungsmöglichkeiten in den Blick, die sich am Menschen orientieren.

Die ganze Stadt (Collage, W.-G. Otto 2020)

Bei allen Vorteilen, welche die digitale Technik mit sich bringt, kann sie bisweilen zur Belastung werden. Etwa, wenn man auch außerhalb seiner eigentlichen Arbeitszeiten durch das mobile Telekommunikationsgerät unausgesetzt für den Chef, die Kunden und Kollegen verfügbar ist – verfügbar sein muss. Eben weil das alle so machen und man ja um Himmels Willen nun mal nicht seinen hart erkämpften Job verlieren möchte, um dann bei der Bundesagentur für Arbeit vorzusprechen.

Die räumliche und zeitliche Entgrenzung der Erwerbsarbeit kann zum Joch für das Individuum werden, sie muss es aber nicht zwangsläufig. Denn vieles hat durchaus seinen Nutzen und gereicht den Menschen zum Vorteil. Die Möglichkeiten global vernetzter Kommunikation und der Zugriff auf schier unerschöpfliche Mengen an Wissen, Bildung, Kunst und Kultur mag man deshalb für eine bessere Welt, ein besseres Leben und Miteinander ins Feld führen.

Die eigentliche Ursache für den hohen Druck, dem viele bei der Arbeit, aber auch im Privatleben ausgesetzt sind, gründet nicht unmittelbar auf der neuen Technologie. Es sind vielmehr die Vorgaben unserer Leistungsgesellschaft, die dem Individuum permanente Anpassung abverlangen und es zur unausgesetzten Selbstoptimierung antreiben. Gewinnmaximierung und ewiges Wirtschaftswachstum sind das Credo unserer Tage.

Der optimierte Mensch (Foto, Kristof Warda 2020)

Die heutige Leistungsgesellschaft kann historisch hergeleitet werden. Im Kern handelt es sich dabei um die Abwendung des Menschen von seiner ursprünglichen, über einen Zeitraum von rund zweieinhalb Millionen Jahren praktizierten Lebensweise. Anfänge dieses Zerwürfnisses lassen sich bereits im Zuge der Einführung von Ackerbau und Viehzucht ausmachen.

Allerdings befanden wir uns nach unserer Vertreibung aus dem Paradies für Tausende von Jahren noch weitgehend im Einklang mit der Welt dort draußen. Die Leute versahen ihr Tagewerk gemäß den natürlichen Zyklen der Jahreszeiten, verschiedene Tätigkeiten mussten in der vorindustriellen Agrargesellschaft im Jahreslauf verrichtet werden. Man war unmittelbar abhängig von Wetter, Klima und anderen natürlichen Einflüssen – im Positiven wie im Negativen.

Das änderte sich mit Beginn des Industriezeitalters fundamental. Die beschleunigte Entwicklung von Technik, Produktivität und Wissenschaften infolge der Industriellen Revolution sowie die rasant zunehmende Bevölkerung, führten zu tiefgreifender und dauerhafter Umgestaltung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse, der Arbeitsbedingungen und Lebensumstände.

Ein wesentlicher Aspekt dieser bis heute fortdauernden allumfassenden gesellschaftlichen Transformation menschlichen Daseins und Erlebens besteht in der stufenweisen Entkoppelung des Arbeitslebens von äußeren Faktoren, beispielsweise Wetter, Licht, Distanz.

Apropos Distanz: bereits vor der Illumination unserer Wohn- und Arbeitsstätten waren es technische Errungenschaften im Sektor des Transportwesens, die, zuerst dampf-, dann kraftstoffbetrieben, Entfernungen zusammenschrumpfen ließen. Schiffe waren nicht länger von Passatwinden abhängig, Flugzeuge überflogen die Pole, die Eisenbahn eroberte die abgelegensten Winkel der Kontinente. Gebirge, für deren schweißtreibende Durchquerung man in vorindustriellen Tagen eine Herde störrischer Lasttiere und mehrere Wochen aufwenden musste, lassen sich mittlerweile in Minutenschnelle bequem im Passagiersitz mit dem Martiniglas in der Hand und der Kulturzeitschrift auf dem Schoß überwinden.

Seit der Morgenröte des Industriezeitalters verlieren topographische Gegebenheiten sowie Tages- und Jahreszeiten für den Alltag zunehmend an Bedeutung. Gleichgeschaltete Chronometer übernehmen die Rolle, die vormals den Gestirnen zukam. Elektrisches Licht ermöglicht das Arbeiten rund um die Uhr. Der Sonnentag hat ausgedient. Die Innovationen der Digitalisierung indes verstärken diesen Prozess der Entgrenzung von der Natur radikal, was uns einerseits noch unabhängiger von ihr macht, uns andererseits aber auch isolieren kann.

Im Garten (Sofia Palm 2018)

Mitte der 1970er Jahre entwickeln die Mikrobiologin Lynn Margulis und der Biophysiker James Lovelock die Gaia-Hypothese, derzufolge unsere Erde und die sie umgebende Atmosphäre wie ein einziger Organismus betrachtet werden können. Die beiden Wissenschaftler begründen ihre Theorie damit, dass es zahlreiche Anzeichen dafür gäbe, dass unser Planet die Fähigkeit zur Selbstregulation habe – etwa in Bezug auf Klimaschwankungen sowie Sauerstoffgehalt der Luft und Salzgehalt der Meere. Die Fähigkeit zur Selbstregulation indes gilt als Kennzeichen von Lebewesen. Dementsprechend könne man die Erde als einen einzelnen Organismus betrachten.1

Dieser holistische Perspektive liegt die Vorstellung zugrunde, dass natürliche Systeme und ihre Merkmale als Ganzes und nicht bloß als Zusammensetzung ihrer Komponenten zu betrachten sind, wobei das Gesamtsystem niemals vollständig aus dem Zusammenwirken aller seiner Einzelteile verstanden werden kann. Die Bestimmung der Einzelteile ist allerdings abhängig von ihrer funktionalen Rolle, die sie in Bezug auf das Ganze haben.

Folgt man diesem Bild, könnte man hinsichtlich des Wandels der Arbeitswelt die Behauptung aufstellen, dass der Mensch als Teil des irdischen Gesamtorganismus sein unmittelbares Eingebundensein gegen die Vorteile der Selbstbestimmung eingetauscht hat. Die selbstgewählte Vertreibung aus dem Paradies kann als ein Akt der Emanzipation betrachtet werden. Durch die technischen Errungenschaften, die ihn unabhängiger von der Natur machen, ihm Handlungsspielraum und Freiheit verschaffen, hat der Mensch sich allerdings auch von sich selbst entfernt. Dadurch, dass die Natur und ihre Zyklen in seinem unmittelbaren Erleben in den Hintergrund treten, machen sich nicht selten Gefühle von Isolation und Sinnlosigkeit breit.

Nun ist dieser Prozess in den vergangenen zwei Jahrhunderten rasant vorangeschritten. Und dies immer wieder begleitet von subkulturellen Gegenbewegungen, welche den gesellschaftlichen Mainstream konterkarieren, ohne ihn indes vollständig umlenken zu können: beispielsweise Romantik, Lebensreform, 68er-Bewegung, Klimajugend. Nichtsdestotrotz liefern diese Strömungen wichtige Impulse, die im Laufe der Zeit auf die Mehrheitsgesellschaft einwirken und sie in vielen Bereichen positiv beeinflussen.

Der Raubbau an der Natur hat mittlerweile zu einem ökologischen Desaster geführt, das unsere Kinder und Kindeskinder ausbaden müssen und dagegen in jüngster Zeit auch glücklicherweise wieder demonstrieren und verstärkt nach Alternativen Ausschau halten. Anthropogener Klimawandel, Plastikproblem, Überdüngung und Artensterben sind unleugbare Folgen von Industrialisierung und Konsumgesellschaft.

Ambiguitas (Assemblage, W.-G. Otto 2020)

Ursächlich für die zunehmende Verarmung weiter Kreise der Weltbevölkerung und die daraus resultierenden Migrationsströme sind neben einem ungerechten Wirtschaftssystem die seit Beginn des Industriezeitalters stetig zunehmenden CO2-Emissionen. Denn die dadurch verursachte klimatische Veränderung führt in vielen Weltgegenden zu Extremwetterlagen und Wüstenbildung, welche die Leute zur Flucht zwingt.

Auch in Bezug auf sein Arbeitsleben tut der Mensch sich nicht selten Gewalt an. Nun, das gilt selbstverständlich nicht für alle und jeden. Denn bekanntlich lassen einige Leute gerne andere und das Geld für sich arbeiten – unser Wirtschaftssystem macht dies möglich. Manche wiederum können ihr Arbeits- und Privatleben ganz gut miteinander in Einklang bringen und wissen die Digitalisierung für sich zu nutzen.

Nicht von der Hand zu weisen ist allerdings, dass das Leistungsethos der Gegenwartsgesellschaft zum allgemein anerkannten Ideal geworden ist und dass die Leute sich nicht selten von der digitalen Technologie ins Bockshorn jagen lassen, anstatt sie adäquat als Hilfsmittel zu nutzen. Denn die Kombination der Digitalisierung mit dem Leistungs- und Wachstumsdiktat unserer Tage ist es, die die Unruhe schafft, keineswegs ist es die Digitalisierung nur für sich genommen.

Digitalisierung und Internet sind seit etwa zwanzig Jahren Alltag. Wir alle müssen und dürfen mit den weitreichenden Auswirkungen in Arbeitswelt, Freizeit und zwischenmenschlichen Beziehungen leben. Vieles erweist sich als vorteilhaft, manches als kritisch zu betrachten. Auf jeden Fall besteht in zahlreichen Kontexten Klärungsbedarf. Medienkompetenz ist mittlerweile gefragter denn je. Die Kernfrage besteht indes darin, wie die Menschen ihren Weg im digitalen Zeitalter finden, wie sie zurechtkommen angesichts Industrie 4.0 am Arbeitsplatz, Fitness-App in der Freizeit, Übersetzungs-Software auf der Urlaubsreise und Messenger-Dienst sowie Dating-App in ihren zwischenmenschlichen Beziehungen. Denn bei all diesen Dingen geht es letztendlich um Identität.

Durch die Anfang 2020 einsetzende Corona-Pandemie kommt es allerdings zu einer unfreiwilligen Stagnation des zweifelhaften Ideals permanenten Wirtschaftswachstums und des daran gekoppelten unausgesetzten Arbeitseifers im Identitätsverständnis vieler Menschen. Sand ist ins Getriebe der Leistungsgesellschaft geraten. Treffender formuliert: Viren haben sich im Leiterplattengeflecht zwischen den Prozessoren breit gemacht. Mit einem Mal stehen alle Räder still. Menschen werden in Kurzarbeit geschickt oder verlieren im schlimmsten Fall ihre Jobs. Andere wiederum arbeiteten von daheim. Insbesondere Freiberufler sind unmittelbar von den wirtschaftlichen Auswirkungen betroffen, welche die unselige Hochzeit der zwar kleinen, gleichwohl reproduktionswilligen Lebensformen in der Menschenwelt zeitigt. Soziale Distanzierung ist das Gebot der Stunde – und das bis auf wenige Ausnahmen weltweit.

Als verblüffend erweist sich, wie schnell die Leute sich hierzulande an den Ausnahmezustand gewöhnen, innerhalb welch kurzer Zeit das Tragen von Gesichtsmasken und die ausgewiesenen Abstands- und Verhaltensregeln zur Normalität wird. Zwar maulen einige wenige, was durchaus verständlich ist, da die Grundrechte massiv beschnitten werden. Außerdem zeigt sich bei den Experten und Entscheidungsträgern aus Wissenschaft und Politik eine offenkundige Uneinheitlichkeit, was die Optimierung der Gegenmaßnahmen betrifft. Begreiflicherweise, schließlich hat es einen solchen Fall niemals zuvor gegeben. Andere wiederum ersinnen phantasievolle Erklärungsmodelle, welche die Pandemie entweder verleugnen oder sie als inszenierte Verschwörung dunkler Mächte zu entlarven glauben.

Am Beginn der Pandemie entbrannte zwischen den Lagern der Befürworter und der Gegner der eingeleiteten Maßnahmen ein regelrechter Deutungskrieg, in dessen Verlauf die Gegner, zumindest bis auf Weiteres, ins Hintertreffen gerieten. Allerdings glauben auch nur die Dümmsten, dass man die Sache aussitzen müsse und man nichts zu ändern brauche. Die Angelegenheit beginnt durch das globale Ausmaß, das sie inzwischen erreicht hat, einzuschüchtern. Die Sorge um ihre Nächsten und sich selbst gibt den Leuten die Motivation zur Veränderung.

Der Alltag muss vollkommen umstrukturiert werden, will man die Reproduktionsrate niedrig halten. Und mit dem Rückzug ins Private beginnt glücklicherweise auch das große Hinterfragen. Die Suche nach dem Sinn des Hamsterrads. Endlich. Da Shoppen und andere Optionen des Konsums zeitweise unterbunden waren, wurde vielen gewahr, wie wenig man eigentlich braucht, um zufrieden zu sein. Zu Beginn der Krise kam es noch zu einem Aufflackern konsumistischer Irritationen, welche sich etwa daran ausmachen lassen, dass viele Leute sich bis über beide Ohren mit Toilettenpapier und anderen eher zweitrangigen Produkten eindeckten.

Als problematischer erweisen sich die sozialen Aspekte der Abschottung. Konzerte, Clubs, Großveranstaltungen jeglicher Art waren zeitweise ausgesetzt. Streng verboten waren Versammlungen daheim oder in der Öffentlichkeit. Der soziale Umgang beschränkte sich während Lock- und Shutdown auf Familienmitglieder sowie wenige Freunde, mit denen man telefonisch oder mittels digitaler Medien in Kontakt blieb.

Tor zur Welt (Foto, W.-G. Otto 2020)

Glücklicherweise, könnte man sagen. Ohne die Errungenschaften der Digitalisierung würde die Coronakrise zu noch mehr Isolation, Informationsnotstand und Ängsten führen. Die Menschen sind in diesen Zeiten auf sich selbst und ihr unmittelbares soziales und lokales Umfeld zurückgeworfen. Alternative Formen der Freizeitbeschäftigung und des Arbeitslebens entwickelten sich indes erstaunlicherweise unverzüglich. So viel Wille zur Veränderung hätte es ohne die Pandemie niemals gegeben. Nicht freiwillig.

Viele Menschen entdecken beispielsweise durch die Coronakrise ihre grüne Umgebung neu, mit der sie seit Jahren nicht in Kontakt gekommen waren, vielleicht seit Kindheitstagen nicht mehr. Mit einem Mal sieht man Leute durch den Wald spazieren, die man vormals nur in der Fußgängerzone oder im Einkaufszentrum getroffen hatte. Durch die vielfältigen Einschränkungen wendet man sich in Zeiten des Lockdowns vermehrt der nahen Natur zu, anstatt ins Restaurant zu gehen, einzukaufen oder das Kino zu frequentieren.

Da öffentliche Spielplätze aufgrund der Infektionsgefahr zeitweise tabu waren, gehen viele mit ihren Kindern mittlerweile wieder in den Wald, bauen Baumhäuser und beobachten Tiere und Pflanzen. Gemeinsam oder alleine begegnet einem dort, was man schon fast vergessen zu haben glaubte: der inspirierenden Vielfalt des Lebens, Entschleunigung, sich selbst, dem großen Ganzen. Natur als Lebens- und Erlebnisraum, aus dem wir Kraft schöpfen, an dem wir unmittelbar Anteil haben.

Dadurch verstärkt sich auch das Bewusstsein für und die Sorge um unsere vermeintliche Umwelt. Die Krise macht uns auf drastische Weise deutlich, wie sehr wir von der Natur und ihren Prozessen abhängig sind – wie sehr wir, folgt man der Gaia-Hypothese, ein Teil dieser Welt sind. Und dass es sich bei der Natur mitnichten um unsere Umwelt, sondern dass es sich bei ihr vielmehr um einen Teil unserer Selbst handelt.

Durch COVID-19 wird uns bewusst, in welchem umfänglichen Maße wir in ein unsichtbares Netz eingebunden sind. Weltweit. Waren uns beispielsweise Nachrichten von Naturkatastrophen und Kriegsgräueln aus Afrika oder Asien vor der Krise wie unwirkliche Geschichten aus einer anderen Welt vorgekommen, die uns zwar traurig stimmten, uns aber nicht zu betreffen schienen, änderte sich dies durch Corona schlagartig.

Das Bewusstsein, dass alles mit allem zusammenhängt, dass die gesamte Menschheit, ja, der gesamte Planet als Schicksalsgemeinschaft betrachtet werden muss, ist eine erfreulich positive Auswirkung der Pandemie. Als ebenfalls positiv erweist sich der Wille zur Entschleunigung, die Rückbesinnung auf sich selbst sowie die Reduktion des Konsums auf das Wesentliche. Bemerkenswerterweise lässt diese Krankheit die Welt ein Stück weit gesunden oder doch zumindest einen Eindruck davon gewinnen, wie eine gesunde Welt aussehen könnte.

Die zeitweilige massive Einschränkung des Flug- und Schiffsverkehrs führt dazu, dass die Natur nachweislich aufatmet. Erfreulich auch der spontane Veränderungswille der meisten Menschen. Veränderung ist möglich, flüstert uns der Virus zu. Alternativlosigkeit ist keineswegs gegeben. Alles ist im Fluss und wir können bis zu einem gewissen Grad die Richtung vorgeben. Zu dieser Erkenntnis verhilft uns der Freiraum, den uns Corona in Zeiten des Lockdowns beschert.

Die Krise sorgt dafür, dass sich längst überfällige Neuerungen in der Arbeitswelt durchsetzen – nicht ausnahmslos, aber doch bei zahlreichen Arbeitgebern und Institutionen. Flexible Arbeitszeitmodelle gewinnen an Bedeutung und endlich wird Home-Office in vielen Arbeitsbereichen zur Normalität. Die technischen Voraussetzungen dafür existieren bereits seit geraumer Zeit, trotzdem wurde bis zum Ausbruch der Pandemie beispielsweise an völlig ungerechtfertigten Anwesenheitspflichten festgehalten, mussten alberne Kernzeiten eingehalten werden, obwohl sie der Sache nur recht selten wirklich dienten.

Die Digitalisierung indes stellt Mittel bereit, die das Arbeiten von daheim in zahllosen Berufsfeldern erlaubt. Dadurch lassen sich beispielsweise weite Anfahrtswege einsparen. Auch die Vereinbarkeit von Familien-, Privat- und Erwerbsleben erlebt eine Renaissance – durchaus vergleichbar mit der Lebenspraxis vorindustrieller Gesellschaften. Das ist ausgesprochen faszinierend, möchte ich meinen.

Durch das durch den Virus erzwungene Experiment der räumlich und zeitlich flexiblen Arbeitsmodelle nähert man sich tatsächlich in gewisser Weise und in sozialer Hinsicht wieder der Lebenswelt früherer Epochen an, zumindest was die Verortung und Deckungsgleichheit von Arbeits-, Wohn- und Lebensmittelpunkt betrifft sowie das an die Erfordernisse angepasste Zeitmanagement.

Die Pandemie wirkt als Katalysator neuer Modelle des Arbeitens. Modelle, die bereits seit vielen Jahren existieren, jedoch nie zuvor im großen Maßstab ausprobiert wurden. Corona zwingt zum Umdenken. Frithjof Bergmann gilt als Begründer der New Work-Bewegung. Er erkannte bereits in den 1970er Jahren, dass sowohl Kapitalismus als auch Sozialismus an ihre Grenzen geraten sind und kein an die Bedürfnisse des Menschen angepasstes Wirtschafts- und Arbeitsmodell bereitstellen können.2

Seither sind weltweit zahlreiche Institute, Zentren und Projekte entstanden, die sich mit den Inhalten und Möglichkeiten des Neuen Arbeitens befassen. Konzeptionell unterscheiden sich die einzelnen Modelle beträchtlich voneinander, gemeinsam ist allen jedoch die Auffassung, dass man Neue Arbeit nicht unbedingt mit Erwerbstätigkeit gleichsetzen darf, vielmehr handelt es sich bei ihr um eine alternative Art der Lebensgestaltung. Neue Arbeit muss man nicht verrichten, man darf sie ausüben. Neue Arbeit ermöglicht Selbstbestimmung und ist grundsätzlich unabhängig von der jeweiligen Sparte der Arbeit.

Denn Neue Arbeit definiert sich über das Wie und das Warum und ist aus diesem Grund in allen möglichen Bereichen umsetzbar. Sowohl im Bildungsbereich, im Büro, im Schiffsbau als auch in der Pflege oder in der Gärtnerei. Bei aller Vielfalt, die ihre Einsatzbereiche betrifft, lässt sich die Zielsetzung Neuer Arbeit klar umreißen. Sie muss einen Mehrwert schaffen, der nicht unbedingt in Geld quantifizierbar ist, in den seltensten Fällen sogar. Selbstverwirklichung, Sinnhaftigkeit und Teilhabe an Gemeinschaft sind ausgemachte Ziele Neuer Arbeit, die sich dem vordergründigen wirtschaftlichen Gewinn- und Wachstumsdenken widersetzt.

Denn neue Arbeit bedeutet im Kern Handlungsfreiheit für das Individuum und verantwortungsvolles Leben von Gemeinschaft. Nach Auffassung von Bergmann habe die Menschheit derzeit die Chance, sich von der Knechtschaft der Lohnarbeit zu befreien und stattdessen eine gesündere und fröhliche Art und Weise des Zusammenlebens zu pflegen. Aus drei Teilen solle sich die Neue Arbeit zusammensetzen: aus Erwerbsarbeit, Selbstversorgung auf höchstem technischen Niveau sowie Tätigkeiten, die inhaltlich erfüllen.

Automatisierungsprozesse und Digitalisierung schaffen die Grundlagen für die Verwirklichung neuer Modelle des Arbeitens und Lebens. Kooperativ betriebene Fabriken könnten in naher Zukunft die Produktion von Gütern übernehmen, für die in früheren Tagen zahlreiche Arbeitskräfte eingesetzt werden mussten. Die eingesparte Zeit würde im besten Fall Prozessen der Selbstverwirklichung zugute kommen. Ähnlich wie in den ursprünglichen Wohlstandsgesellschaften der Altsteinzeit könnte die gewonnene Freizeit dafür genutzt werden, um sich als Individuum und Gesellschaft weiterzuentwickeln.

Menschenbilder (Sylvie A. Dimmer 2019)

Auch die Dreiteilung der Arbeit in Erwerbsarbeit, Selbstversorgung und Selbstverwirklichung erinnert an Arbeits- und Wirtschaftsweisen subsistenzorientierter Jäger- und Sammlerkulturen. Die Vielfalt der Tätigkeiten sowie die Agilität des Arbeitens, angesichts sich ständig verändernder Umstände, schulen den Verstand und die Kreativität und lassen nicht den Überdruss und die Langeweile aufkommen, die starre Strukturen und strikte Arbeitsteilung verursachen. In gewisser Weise sind die Modelle der Neuen Arbeit eine Rückkehr zu unseren Ursprüngen, zu einer Lebensweise, die wir über Jahrmillionen gepflegt haben.

Dazu zählt auch die Bedeutung von nachbarschaftlichen Netzwerken. Die lokale Vergemeinschaftung von Menschen, Austausch von Gütern und gegenseitige Unterstützung kann einerseits durch die Errungenschaften des digitalen Zeitalters umgesetzt werden, etwa durch soziale Netzwerke wie beispielsweise www.nachbarschaft.net oder www.nebenan.de. Hier können sich Menschen gegenseitig über lokale Neuigkeiten informieren, sie können Hilfe erfragen oder anbieten, Waren tauschen oder sich einfach kennenlernen und über gemeinsame Interessen und Projekte unterhalten.

Eine weitere Möglichkeit besteht in städtebaulichen Maßnahmen. Die Idee des bereits Ende des 19. Jahrhunderts entworfenen und seitdem ständig weiterentwickelten Modells der Gartenstadt beinhaltet neben den sozialen Vorteilen einer gelebten Nachbarschaft auch ökologische Aspekte sowie die Option landwirtschaftlicher Selbstversorgung. Urban Gardening schafft eine lebenswerte Atmosphäre in unseren Städten, ein gesundes Mikroklima, verringert Transportwege, zeigt unseren Kindern unser unmittelbares Eingebundensein in die Stoffkreisläufe unseres Planeten, bietet uns Freiraum sowie die Möglichkeit, andere Menschen kennenzulernen und gemeinsam mit ihnen etwas Sinnstiftendes zu schaffen.

Wenn wir nur einen Teil dieser Utopie Wirklichkeit werden ließen, wenn Arbeit wieder gekoppelt wäre an die wirklichen Bedürfnisse und die soziale Natur des Menschen, ist es alles in allem genommen doch nur eine erstaunlich kurze Geschichte der Arbeit im Sinne von Mühsal und Qual gewesen. Wir würden endlich wieder zu leben beginnen, indem wir unseren Wünschen, Hoffnungen, Träumen und Begabungen folgen und uns als Gemeinschaft weiterentwickeln. Unsere Zukunft beginnt jetzt und kann durch uns geformt werden. Dafür bedarf es keiner Revolution. Vielmehr werden viele kleine Schritte zu einem großen Sprung für die Menschheit.

Welf-Gerrit Otto

Früher: Zwischen Fitnessstudio und Jobcenter

Hörtipps zur Lektüre

El jardin de las delicias 4.0 (Assemblage, Franka-Henrike Czaika und W.-G. Otto 2020)

The Times They Are a-Changin‘

Come ‚gather ‚round, people
Wherever you roam
And admit that the waters
Around you have grown
And accept it that soon
You’ll be drenched to the bone
If your time to you is worth savin‘
And you better start swimmin‘
Or you’ll sink like a stone
For the times they are a-changin‘

Come writers and critics
Who prophesize with your pen
And keep your eyes wide
The chance won’t come again
And don’t speak too soon
For the wheel’s still in spin
And there’s no tellin‘ who
That it’s namin‘
For the loser now
Will be later to win
For the times they are a-changin’…

[Bob Dylan 1964]

Literatur

Bergmann, Frithjof (1977): On Being Free. Notre Dame (Indiana, USA): University of Notre Dame Press.

Bergmann, Frithjof (2017): Neue Arbeit, neue Kultur. Freiburg im Breisgau: Arbor.

Lovelock, James (1992): Gaia. Die Erde ist ein Lebewesen. München: Scherz.

Margulis, Lynn (2018): Der symbiotische Planet. Frankfurt am Main: Westend.

1 Lovelock 1992.

2 Bergmann 1977, 2017.