Hörtipp zur Lektüre: Fratres (Arvo Pärt 1977)

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Im Königreich Sam in der Provinz Sara lebte vor langer Zeit ein junger Mann, der sein Auskommen mit Almosen bestritt. Seine Eltern waren ihm früh verstorben und hatten, da sie selbst mittellos waren, kein Erbe hinterlassen, von dem er eine Berufsausbildung hätte finanzieren können. Und so lebte der Mann von Gelegenheitsarbeiten und dem Mitleid seiner Mitmenschen, die ab und an etwas Essen oder Geld in seine Bettelschale warfen.

Die Nächte verbrachte der Bettler vor den Toren der Stadt in einem kleinen Bambuswäldchen. Stets auf der Hut vor wilden Tieren und Gesindel, das sich einen Spaß daraus machte, den Ärmsten der Armen Gewalt anzutun und sich an ihrer Ohnmacht zu weiden. Du wirst sicher verstehen, dass er nächtens deshalb kaum ein Auge zutat und des Morgens unausgeschlafen in den Tag trat.

Um nicht zu verhungern, ging der Mann in jeder Morgendämmerung dorthin, wo die Tagelöhner darauf warteten, dass man ihnen die eine oder andere Aufgabe zuteilte. Doch nur selten kam er zum Zuge und in den zweifelhaften Genuss, für ein paar lumpige Münzen bis tief in die Nacht hinein zu schuften. Andere kamen ihm zuvor, die sich vordrängelten und den Mann zur Seite stießen. Dann blieb wieder nur das Betteln und nicht wenige Vorübergehende spotteten seiner und spuckten in seinen Napf.

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Eines Morgens beschloss der Mann, dass es so nicht weitergehen könne. Gemeinsam mit anderen Tagelöhnern hatte er wieder einmal vergeblich um Arbeit angestanden. Doch anstatt nun wie üblich am Rande des Marktes zu betteln, verweilte er auf dessen Mitte und lauschte den Gesprächen der Leute.

So hörte er das erste Mal von ihr. Und ihre Geschichte fesselte ihn sofort. Woher sie ursprünglich gekommen war, blieb indes ungewiss. Manche sagten, ihre Eltern seien vor langer Zeit aus Richtung des Sonnenunterganges eingewandert. Andere wiederum behaupteten, es habe sie immer schon gegeben. Zumindest so lange, wie der immerwährende Zyklus des Seins sein beständiges Wandern zeitigte.

Vor der Küste soll sie dereinst in Not geratene Seeleute gerettet haben. Wie genau das vor sich gegangen sein sollte, wusste man zwar nicht zu sagen. Aber die Leute waren sich sicher, dass sie es gewesen war, die als Warnung das Muschelhorn geblasen hatte, kurz bevor die Schiffe an den Klippen zu zerschellen drohten. Sterbenden habe sie mit ihrem Lächeln Schmerzen und Ängste genommen und verwundete Tiere hätten den Weg in ihr Lager gefunden, um sich von ihr heilen zu lassen.

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Die drei Geistesgifte Gier, Hass und Unwissenheit würden in ihrer Gegenwart verwehen. Es lüftete der Schleier der Maya sich gleich dunklen Wolken, welche die ewige Sonne verborgen hatten und nun den Blick freigaben auf den weiten, blauen, unendlichen Himmel. Die Schlange erschien nicht mehr als Seil, sondern wieder als Schlange und das hängende Gesäuge der Krähe verlor in der Kühle des klaren Tages seine nächtens dräuende Macht.

Das war vor vielen Jahren gewesen. Mittlerweile lebte sie in den unergründlichen Nebelwäldern des nordwestlichen Sumpflandes. Dies zumindest erzählte man sich. Genaueres wussten die Leute auch auf Nachfrage des Mannes nicht zu berichten. Seit vielen Jahren schon war keiner ihr mehr begegnet. Ungewissheit herrschte darüber, ob sie überhaupt noch in diesem Leben weilte oder bereits hinübergeschritten war in ein anderes. Etwa als Schmetterling, Berglöwe oder als eine der Himmlischen. Und so beschloss der Mann, sie unverzüglich aufzusuchen. Um zu fragen, was, warum und wie es ist.

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Gleich am Morgen brach er auf. Die kleine Stadt schien noch zu schlafen, nur der matte Schimmer einiger Kohlefeuer, an denen die Menschen in ihren Häusern sich wärmten, drang hier und dort aus geöffneten Luken. Es war kühl, als der Mann sein Bündel schnürte und die schadhafte Decke, auf der er die Nacht draußen verbracht hatte, sorgfältig verstaute. Ein früher Hajimari tutete in der Ferne und schreckte einen Schwarm Tauben auf.

Den Erzählungen der Leute zufolge musste er dem Sonnenuntergang folgen, um das ferne bewaldete Heideland zu erreichen, in dem man sie wähnte. Ausgerüstet mit wenigen bescheidenen Habseligkeiten sowie einem Kanten Brot, machte der Mann sich auf den Weg, von dem er nur eines wusste. Nämlich, dass er lang und beschwerlich sein würde, aber auch voller Abenteuer und Begegnungen.

Hinter der Flussbiegung breiteten sich üppige Reisfelder und Obstgärten bis zum Horizont aus. Es war eine wahre Wonne durch sie hindurchzuschreiten. Vögel zwitscherten, Luft war erfüllt vom Duft zahlloser Blüten und Früchte. Bereits hoch am Himmel stand die Sonne, als der Wanderer sich entschloss, am Ufer eines Baches inmitten der duftenden Gärten für eine Weile zu rasten und einen Bissen von seinem kargen Proviant zu sich zu nehmen.

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Mittels seiner Schale schöpfte der Mann aus dem stetigen Rieseln der Wasser und setzte sich sodann ins weiche Moos des steinernen Hages, mit dem man an dieser Stelle einen Mangohain umfriedet hatte. Nahm Brot und Getränk, begann ohne Eile zu essen und zu trinken. Nicht lange. Auf einmal Schnaufen und Prusten, Geläut und Klang von Stimmen. Da sah er von seiner bescheidenen Mahlzeit auf und bemerkte einen in vornehmes Gewand gekleideten Herrn auf einem reich geschmückten Elefanten im Mittagslicht sich ihm nähern.

Der Andere war nicht allein. Begleitet wurde er von Dienern, die den Elefanten an einer scharlachroten, mit Glöckchen behangenen Leine führten. Kaum hatte der Reiche den Wanderer erblickt, gebot er seiner Gefolgschaft anzuhalten. „Was treibt dich in diese Gegend, die zwar schön und fruchtbar, aber doch auch abgelegen und einsam für einen jungen Menschen wie dich sein muss?“, sprach er mit freundlicher Stimme. „Hast du nicht Angst, unbegleitet wie du bist, Räubern oder anderen Spitzbuben zum Opfer zu fallen? Ein anständiger Geselle scheinst du mir aber zu sein. Das erkenne ich an deinem Blick. Magst du mit in mein Haus kommen und eine Nacht bei meiner Familie und mir verbringen, bevor Du weiterziehst?“

Nichts lieber als das,“ entgegnete der Wanderer, stand auf und begab sich gemeinsam mit dem Mann zu dessen Anwesen, dass nur wenige Schritte hinter der nächsten Wegbiegung lag. Wie staunte er da. So eine Pracht hatte er noch nie zuvor gesehen. Nachdem die kleine Prozession ein hohes und reichverziertes Tor, bewacht von grimmig dreinblickenden Wachen, durchschritten hatte, trat sie in einen ausgedehnten Park, in dessen Mitte ein prächtiger Palast einladend in der Sonne glänzte.

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In einem Seitenflügel des Herrenhauses erhielt der Wanderer eine helle und reinliche Kammer mit Bettstatt zugewiesen. Nachdem er sein Gepäck verstaut und sich den Staub der Reise von Angesicht und Körper gewaschen hatte, gewahrte er beim zufälligen Blick durch das Fenster ungewöhnlich viele Wachleute in Haus und Garten. Alsdann wurde er von einem herbeigeeilten Diener zum Abendessen gerufen und konnte seinen Gedanken nicht länger anhängen.

Trotz des offenkundig zur Schau gestellten Reichtums war das Mahl einfach und bekömmlich. Es gab Reis mit Gemüse und Fisch. Neben seinem Gastgeber hatte dessen Gattin Platz genommen, eine schöne und freundliche Dame, die allerdings, ganz wie ihr Gemahl, von einem, unachtsamen Augen unsichtbaren Schleier der Traurigkeit umgeben war. Doch der Wanderer konnte sehen und nicht bloß schauen. Seit Beginn seiner Wanderschaft klarer als zuvor.

Wir waren nicht immer so wohlhabend wie du uns jetzt begegnest,“ sprach der Reiche, als alle ihren Hunger gestillt hatten. „Früher waren meine Frau und ich einfache Fischer, die von der Hand in den Mund lebten. Doch dann kam uns der Zufall zuhilfe. Oder war es Fügung? Wenn du möchtest, erzähle ich dir unsere Geschichte. Der Abend ist ja noch jung.“

Da nickte der Gast. Und während draußen im Park die schuppigen Leiber der Zerline durch das korkige Geäst der Lupinenbäume huschten und die Zirpen ihren nächtlichen Gesang anstimmten, begann der Gastgeber im Schimmer des Feuers die Geschichte seiner Familie zu erzählen.

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Vor vielen Jahren, meine Frau ging damals gerade schwanger mit unserer Tochter, herrschte wieder einmal eine große Dürre im Land, die alle Gewässer austrocknen ließ. Zwar hatten die Menschen noch ausreichend zu trinken, denn die Brunnen waren nicht ganz versiegt. Aber an Fischfang war damals nicht zu denken. Die Leute dünkten sich glücklich, wenn sie überhaupt noch etwas zu essen auftreiben konnten.

Nun lebte zu dieser Zeit in der Hauptstadt unseres Landes ein König, der über alles in der Welt Fisch liebte. Zu jeder Mahlzeit pflegte er diese Speise zu verzehren. Doch durch die Trockenheit war ihm dies nun nicht mehr möglich, weshalb er von Tag zu Tag missmutiger und unwirscher wurde. Bald war er kaum noch in der Lage, seine Regierungsgeschäfte angemessen zu erledigen, was angesichts der durch die Dürre verursachten Missernten und Notlagen in der Bevölkerung umso unheilvoller war.

Wir einfachen Leute hatten unterdessen ganz andere Sorgen. Und weil ich nun einmal Fischer bin und von meinen Ahnen nichts anderes erlernt habe, durchstreifte ich das ausgetrocknete Flussbett auf der Suche nach Essbarem für Familie und Nachbarn. Was für ein Bild des Elends bot sich mir aber dar. Überall Kadaver von Tieren, die auf der Suche nach Wasser verendet waren. Aufgeblähte Körper explodierten in gleißender Sonne, der Gestank von Verwesung über ausgedörrter Flussniederung. Mehr als einmal schreckte ich durch mein Auftreten ausgehungerte Hyänen auf, die sich keifend ins Aas oder ineinander verbissen hatten. Ein Bild des Grauens dort, wo zu anderen Zeiten der mächtige Strom, einer gigantischen Schlagader gleich, Land und Wesen nährte.

Endlich entdeckte ich in einem entlegenen Seitenarm, verborgen im Schatten einer mit Kiefern bestandenen Felseninsel, eine besonders tiefe Stelle im Flussbett. Wolkenloser Himmel spiegelte sich dort im noch nassen Schlamm. Silbrige Leiber peitschten atemlos auf der Suche nach tieferen Gründen niedrige Wasser auf. Fische. Mit meinem Speer erlegte ich ein einige von ihnen, um Speise für mich und die meinen zu haben.

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Wie freuten sich die Dorfbewohner bei meiner Rückkehr. Als alle satt waren, befand sich nur noch ein einziger Fisch im Korb, ein besonders großes Exemplar. Nach kurzem Nachsinnen entschloss ich mich, dass es nicht schaden könne, dem König meine Aufwartung zu machen und ihm das Tier als Geschenk zu überreichen. Ihm darzubieten. Und so lenkte ich meine Schritte zum Königspalast.

Dort angekommen, begehrte ich Einlass, Doch ein griesgrämig dreinblickender Wachmann stellte sich mir in den Weg: „Halt, wer da?“ „Ich bin ein nur ein armer Fischer, der dem König den letzten Fisch seines Königreiches zum Geschenk machen möchte.“ Der Wächter aber war ein habgieriger und neidischer Mann, der sofort an die Belohnung dachte, die mich ganz sicher für meine Gabe erwartete.

Du kannst den Fisch hier lassen, ich werde ihn dem König übergeben,“ sprach er herablassend und bedeutete mir, dass ich nun verschwinden solle. „Nein, das kommt nicht in Frage,“ entgegnete ich. Selbst überrascht vom Nachdruck in meiner Stimme. „Ein solch kostbares Geschenk werde ich dem König nur von Angesicht zu Angesicht überreichen. Darauf bestehe ich bei meiner Ehre als Fischer.“

Was bildest du dir eigentlich ein, Bürschchen? Weißt du etwa nicht, wen du vor dir hast? Du kannst dich glücklich schätzen, dass ich heute recht milde gestimmt bin. Ansonsten würde ich dich mit meinem Säbel von unten bis oben fein säuberlich aufschlitzen und deine noch zuckenden Eingeweide den Krähen zum Fraß vorwerfen. Trotz deiner offenkundigen Unbotmäßigkeit einem erhabenen Palastwächter gegenüber, verlange ich bescheiden, wie es mir mein Amt gebietet, nur die Hälfte von der Belohnung, die der König dir für die Beschaffung seiner raren Leibspeise machen wird. Willigst du nicht ein, wirst du es bald bereuen.“

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Was blieb mir anderes übrig, als dem Unhold beim Leben meiner Familie zu schwören, dass er die Hälfte meines Lohns erhalten würde. Und so ließ er mich in den Palast eintreten, wo man mich nach einigem Hin und Her schließlich beim König vortreten ließ. Der jedenfalls war ganz anderen Gemüts als sein Torwächter, nämlich ein freundlicher und milder Herrscher, der sich über alle Maßen über das Geschenk freute, dass ein einfacher Mann ihm darbrachte.

Sogleich fragte er mich, was für einen Lohn ich für mein vortreffliches Geschenk haben wolle. Gerne würde er den Fisch mit Gold und Juwelen aus seiner Schatzkammer aufwiegen. Auch Ländereien und Sklaven könne ich erhalten, wenn mir danach wäre. Sein Gesicht hättet ihr sehen sollen, als ich ihn untertänigst darum bat, mir statt all dieser Kostbarkeiten tausend Stockschläge auf meinen blanken Rücken zu gewähren. Allein meinen Wunsch konnte er mir nicht verwehren.

Ein Raunen ging durch die auf den Palasthof geeilte Menge, als ich meine Belohnung entgegennahm. Indes fielen die Stockschläge nicht allzu heftig aus. Eher sanft, möchte ich meinen. Immer wieder sah der Scharfrichter, der mir die Schläge verabreichte, zum König hin. Bei jedem Klaps zuckte der Herrscher unmerklich zusammen. Augenscheinlich hatte er keine große Freude daran, mitanzusehen, wie sein Wohltäter malträtiert wurde.

Nach genau fünfhundert Schlägen, die man aufgrund ihrer Milde eigentlich nicht so nennen dürfte, gebot ich dem Geschehen Einhalt: „Nun, da ich die erste Hälfte meines Lohnes erhalten habe, möchte ich dem Torwächter, der mich beim Betreten des Palastes bei meinem Leben dazu gezwungen hat, den zweiten Teil meiner Belohnung überlassen.“

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Was soll ich sagen, Wanderer? Die Geschichte endete damit, dass der aufgebrachte König seinen Torhüter zu Tode schlagen ließ. Mich hingegen überhäufte man derart mit Gold und Gütern, dass ich mir dieses Anwesen erwarb, auf dem ich seither mit meiner Familie lebe. Mein vom König erhaltenes Geld legte ich indes wohlbedacht an und bald mehrte es sich ohne mein weiteres Zutun. Niemals wieder musste ich mein Kreuz beugen und auf Fischfang gehen. Stattdessen ließ ich andere für mich arbeiten und meinen Reichtum mehren.

Doch auf die silbernen Zinnen meiner Wohnstatt stieg der flammende Hahn der Besitzsucht hernieder und bescherte meiner Familie und mir Unruhe und Verlustangst. Nicht ergötzen tat ich mich am Erreichten. Nach immer mehr dürstete es mich, denn Besitz gab mir Sicherheit in einer Welt des Ungewissen. Als dann noch an den Gestaden des nahen Sees Diebesgesindel das Land unsicher machte, umfriedete ich meinen Besitz mit einer hohen Mauer und bewaffnete Soldaten.

Seit dieser Zeit ist meine Tochter stumm und kein noch so gelehrter Arzt konnte bisher Abhilfe schaffen. Ach Wanderer, du kommst ja weit herum. Vielleicht findest ja du Antwort auf die Frage, wie unser geliebtes Kind seine Sprache wiederzufinden vermag.“

Das versprach der Wanderer den guten Leuten, denen ihr Reichtum keine rechte Freude beschert hatte. Und weil der Abend schon weit fortgeschritten war, ließ man die Diener die Lampen löschen und begab sich zur Ruhe, während draußen im Palastgarten die Zerline ihre Schlafkoben im Gezweig bezogen.

Wie ungewohnt aber war es dem Wanderer, seinen Körper auf weiche Kissen zu betten. Mehrmals in der Nacht erwachte er und einmal war es ihm gar, als blickten ihn zwischen den Vorhängen die sanften Augen eines Mädchens an. Doch als er von seinem Bette auffuhr, war dort nur die Bläue des heraufdämmernden Morgens.

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Zeitig und von seinen Gastgebern mit Proviant ausgestattet, machte der Mann sich in der Frühe erneut auf den Weg. Westwärts schritt er durch üppige Obstgärten, passierte ausgedehnte Felder, auf denen Reis und Hirse angebaut wurde. Sonnenverbrannte Landarbeiter ackerten krummen Rückens in der Glut des Tages, pflügten mit Ochsengespannen und legten im Schweiße ihres Angesichts Bewässerungsgräben an.

Gegen Mittag senkrecht gleißende Sonne am wolkenlosen Firmament. Kaum Deckung und Schattenwurf, nur vereinzelt Bäume am Wegesrand. Stattdessen Flimmern über weiten Feldern. Landschaft geradlinig durchzogen von Wällen und Wegen. Bauernland. Nutzland, Brachland. Dem Menschen dienstbar gemacht. Oder hat das Land den Menschen seinerseits in Dienst genommen? Solchen Gedanken nachsinnend wankte der Wanderer vorwärts, westwärts, auf der Suche nach kühlendem Schatten im Labyrinth grün-brauner Rechtecke.

Endlich. Am Horizont Wand aus Wald. Grenzposten behauster Menschenwelt. Anfänglich zwar fern noch, doch am späten Nachmittag erreicht. Der Mann tauchte ein in die dampfende Kühle des Gehölzes. Baumkronen beschirmten ihn vor der bereits niedersinkenden Sonne. Unmittelbar nach Eintritt ins Blätterdickicht die Stimmen unzähliger Geschöpfe.

Das schrille Quiepsen azurblauer Pracht-Hikokis aus den oberen Etagen des Waldes mischte sich mit dem tiefen rhythmischen Rülpsen der Chikatesu-Unken, die ihre feuchten Leiber im Morast des Bodens suhlten oder in den wassergefüllten Blüten der Bromelien ihre Wohnstatt gefunden hatten. Dann und wann auch der markerschütternde Schrei eines balzenden Tetsodos, der das allgegenwärtige Summen der Jidosha-Schwärme übertönte.

Nach dem langen Marsch durch die Weiten der unbeschirmten Äcker und Felder erschien dem Wanderer das Waldland wie eine lebensspendende Oase inmitten der Dürre der Wüste. Da gewahrte er auch schon einen Bach, dessen liebliche Ufer zur Rast einluden.

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Gerade als er sich auf das weiche Moos setzen wollte, hörte der Wanderer ein Rascheln im Unterholz, das ihn aufhorchen ließ. Wie aber erschrak er, als wenig später das kantige Haupt einer gewaltigen Königskobra im Dickicht erschien. Behände sprang er auf und hielt seinen Wanderstab schützend vor sich.

Fürchte dich nicht, ich werde dir nichts tun,“ sprach die Schlange. „Vor Zeiten hättest du dich in Acht nehmen müssen. Ein zorniges und bissiges Wesen war ich damals, das so manchen unachtsamen Menschen mit meinem Gift von diesem ins nächste Leben beförderte. Mit Ablehnung und Wut strafte ich jene, die sich mir näherten. Doch nun, da ich jener begegnet bin, die mir meinen Irrtum vor Augen führte, bin ich ein friedfertiges Wesen, das seine Mitgeschöpfe achtet.

Ach Schlange, du kennst sie?“ entgegnete da der Wanderer. Er erkannte, dass das Reptil aufrichtig war. „Magst du mir von Deiner Begegnung mit ihr berichten? Denn wisse, auch ich bin auf der Suche nach ihr.“ Da richtete die Königskobra sich zu voller Größe auf und wand ihren majestätischen Leib geschmeidig um den Stamm des Bodhibaums. Dann erzählte die Natter dem staunenden Wanderer ihre Geschichte.

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Viele Jahre ist es nun her, da fürchteten die Reisbauern des Umlandes sich sehr, den Bachlauf an dieser Stelle zu queren. Wussten sie doch, dass ich hier im wilden Gesträuch auf der Lauer lag und blitzschnell den Giftzahn in ihr weiches unbeschupptes Fleisch schlug, wenn mir danach war. Sie warnten ihre Kinder und gingen lieber einen Umweg, als dass sie diesen Pfad wählten, der doch der kürzeste zwischen ihren Dörfern ist.

Da begab es sich an einem sonnigen Nachmittag – die Zirpen sangen sanft ihr Lied in den lauen Wind, am blauen Firmament zog der Torpedovogel unbekümmert seine Kreise – dass eine Seherin ihren Weg in unsere waldige Gegend fand. Die Bauern auf den nahen Feldern machten aufgeregt Zeichen und bedeuteten ihr so, den Bach an dieser gefährlichen Stelle zu meiden.

Doch die Frau lächelte nur und setzte ihren Weg unbeeindruckt und ohne zu zögern fort. Kaum aber war sie an den Ort gelangt, an dem ich mich zwischen den Blättern des Bodhibaums verbarg, schnellte ich hervor und war im Begriff zuzubeißen. Doch wie stockte mir der Atem, als ich in ihr Antlitz blickte. Voller Güte und Mitgefühl sah sie mich an, trotzdem ich sie doch soeben bedroht hatte.

Von einem auf den anderen Augenblick war mein Zorn verflogen. „Schau an, nun bist du froh, da deine Wut verflogen ist“, hörte ich sie sprechen. „Denn wenn du die Wesen in deinem Zorn ängstigst, bist auch du nicht glücklich. Merkst du nun, dass dein Hass töricht ist? Begegne deinen Mitgeschöpfen stattdessen mit Güte und Gleichmut, dann wird auch dein Gemüt von Heiterkeit erstrahlen,“ sprach die Frau und begann lächelnd ihren Weg fortzusetzen.

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Nun, was soll ich sagen? Ich befleißigte mich ihres Rats und führte fortan einen untadeligen Lebenswandel. Doch der sollte mir anfänglich schlecht bekommen, wie sich nun herausstellte. Denn kaum hatten die Menschen der Umgebung bemerkt, dass ich meinen unbändigen Zorn gegen freundlichen Gleichmut eingetauscht hatte, begannen sie mir zu Leibe zu rücken.

Zuerst waren sie noch vorsichtig, wenn sie mir an meinem Sonnenplatz am Bachufer begegneten. Doch mit der Zeit wurden sie immer dreister und brutaler. Schließlich traktierten sie mich mit Ästen und Steinen, traten nach mir und ganz Verwegene packten mich sogar am Schwanz und schleuderten mich durch die Luft, dass mir der Atem stockte.

Nach einer Weile war ich mehr tot als lebendig. Anstatt wie früher stolz und selbstbewusst tagsüber in der Sonne zu liegen, verkroch ich mich nun ins Dickicht des Unterholzes, wenn ich menschliche Stimmen und Schritte vernahm.

An einem sonnigen Nachmittag hörte ich wieder einmal, dass sich jemand meinem Versteck näherte. Unsicher lugte ich aus dem schützenden Grün hervor. Wie freudig überrascht aber war ich, als ich anstatt einem meiner Peiniger sie, die sie mir Gleichmut angeraten hatte, erblickte. Sogleich sprach ich:

Sieh mich an: über und über ist mein Leib bedeckt mit Wundmalen und auch mein Gemüt hat Schaden genommen, seit ich den Pfad der Freundlichkeit gegenüber den Menschen beschreite. Beweist dies nicht, dass ein derartiger Lebenswandel in dieser grausamen Welt unnütz und gefährlich ist? Mich dünkt, nur du und deinesgleichen, die ihr geschützt durch Amt und Status aufrecht durch die Leben schreitet, könnt euch solch einen Luxus leisten.“

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Bedenke,“ sprach sie da, „wie gut es dir anfänglich mit deiner Entscheidung ergangen ist. Nur hast du es offenkundig zu weit getrieben. Riet ich dir denn, du solltest nicht zischen und dein Antlitz stolz erheben, wenn sich dir jemand angriffslustig nähert und deine Überzeugungen infrage stellt? Selbstverständlich musst du dich verteidigen, dein Wissen um die Welt wahren. Nur ohne Not angreifen, das sollst du nicht, wenn du Frieden finden willst.“

Fortan beherzigte ich diesen Rat und bin seither immer gut damit gefahren. Doch eines will mir noch immer nicht gelingen, junger Wanderer. Nämlich, dass mir Flügel wachsen. Denn sie sagte mir auch, dass ich mich in einen erhabenen Drachen verwandeln würde, wenn ich ein untadeliges Leben führen würde. Du siehst, dass dies bisher nicht geschehen ist.“

Nachdenklich wand die Schlange sich um den knorrigen Baum und betrachtete den Mann, der ihrer Geschichte aufmerksam gelauscht hatte. Dann sprach sie und Dringlichkeit war in ihrer Stimme: „Lieber Wanderer, du sagtest, dass du selbst dich zu ihr auf den Weg gemacht habest. Wenn du ihr nun begegnest, magst du an sie die Frage richten, weshalb es mir bisher nicht gelungen ist, ein unsterblicher Drache zu werden?“ „Sehr gerne werde ich das tun,“ entgegnete der Mann freundlich. „Auf meinem Rückweg werde ich dir ihre Antwort überbringen.“ Dann verabschiedete er sich und setzte seinen Weg unbeirrt fort, beschenkt durch die Geschichte der Schlange.

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Viele Wochen und Monate zog der Mann unaufhörlich nordwestwärts. Im Gebirge querte er eisige Grade und tosende Flüsse, deren Ufer nur mit schwankenden Seilen halsbrecherisch miteinander verbunden waren. Dann trat er wieder auf offene Ebenen, deren Sandstürme ihm die Augäpfel schliffen. Er schritt durch dicht bewaldete Hügel mit ihm unbekannten Pflanzen und Tieren. Kam in Dörfer, deren Bewohner fremde, schwer verständliche Dialekte sprachen, ihm aber freundlich Obdach und Speise gaben, bevor sie ihn weiterziehen ließen.

Jenseits der menschlichen Siedlungen schlief er unter freien, sternenübersäten Himmeln, unter Felsvorsprüngen oder in schützenden Dickichten, ganz so wie er es von daheim gewohnt war. Es störte ihn nicht weiter. Er hatte ja alles, was er zum Leben brauchte. Und seinem Ziel kam er mit jedem Schritt ein Stück näher. Wenn ihn dürstete, trank er klares Wasser. Wenn der Hunger ihn ermatten ließ, fand mit Sicherheit er bald stärkende Speise. Wilde Früchte und Wurzeln waren ihm ebenso willkommen, wie die Gaben aus den Händen der Menschen, die ihm unterwegs begegneten.

Als Gegengabe erzählte er den Leuten dann von seinen Erlebnissen. Er berichtete von Orten, an denen sie noch nie zuvor gewesen waren. Es kam nicht selten vor, dass sich Erwachsene und Kinder des Abends am Lagerfeuer um ihm scharten und mit leuchtenden Augen bis tief in die Nacht seiner Stimme lauschten. Und es war ihm, als würden seine Geschichten viele seiner Zuhörer nachdenklich stimmen.

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Immer weiter wanderte er. Der großen Steppe folgten bald ausgedehnte Wälder. Um den schneidenden Winden und dem allgegenwärtigen Regen zu trotzen, schlief er nächtens unter selbst gefertigten Bedachungen aus Ästen und Laub. Denn häufig regnete es tagelang, bevor endlich wieder die niedrigstehende Sonne aus bleiernen Himmeln brach und die fremdländische Landschaft in magisches Licht hüllte.

Bisweilen lichtete der Wald sich und der Wanderer durchmaß mächtige Moore, deren Moospolster allein durch den Horizont gezirkelt waren. Konvexe Wölbung ins Unendliche. Baumlos, strauchlos. Kein Gewächs über Kniehöhe. Die wenigen Menschen, die am Saum der Sümpfe ihre bescheidenen, aus Grassoden und Torfblöcken errichteten Unterkünfte bewohnten, hatten hölzerne Pfade angelegt, um den grundlosen Morast trockenen Fußes zu queren.

Dann wieder tagelang nur Birkendickicht. Fahle schlanke Stämme reckten grotesk gekrümmtes Astwerk gleich Armen allwärts. Berührten sich, nahmen einander wie im Reigen bei der Hand. Sie erinnerten den Wanderer an den vierarmigen Nataraja, ertanzend das Universum auf dem niedergerungenen Leib des zwergenhaften Dämons Apasmara, Sinnbild grenzenloser Ignoranz und Borniertheit.

Wenn der scharfe Westwind durch die morastigen Birkenhaine strich, war es dem Wanderer, als huben die Bäume den wilden Tanz Tandava an, den Zyklus von Schöpfung, Erhaltung und Auflösung der Welten und ihrer Erscheinungen. Es konnte vorkommen, dass er in diesen Gegenden wochenlang keinem anderen Menschen begegnete. Und nicht selten war es ihm dann, als würde der Wald zu ihm sprechen und ihm den Blick auf die Dinge klaren.

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Eines sonnigen Tages gelangte der Wanderer in hügeliges Heideland, auf dem vereinzelt kleine Gruppen von Wacholdern und Kiefern wuchsen. An einigen Stellen war der Boden aufgebrochen und niedrige Sanddünen hoben sich weiß vom tiefen Grün des umgebenden Heidekrauts ab.

Als er voranschritt, gewahrte er mit einem Male einen mächtigen Baum, dessen weit verzweigtes Astwerk weit empor in die wolkenlose Bläue des Sommertages ragte. Plötzlich ein erschrecktes Quieken und eine Rotte Wildschweine brach aus dem niedrigen Gesträuch hervor, beäugte ihn angriffslustig, querte seinen Pfad und verschwand gleich darauf wieder im pelzigen Grün der Heide.

Je näher er dem Baum kam, desto höher erschien ihm dieser. Bald befand er sich nur wenige Schritt vom Stamm entfernt und erkannte, dass es sich um einen gigantischen Apfelbaum handelte. Doch wie staunte er, als er plötzlich vier Tieren gewahr wurde, die in einen Streit verwickelt schienen.

Ein Hirsch mit imposantem Geweih hatte den Blick sehnsüchtig zum unerreichbaren Geäst erhoben, wo in diesem Augenblick gerade ein Eichhörnchen sich gemeinsam mit einem Rotkehlchen genüsslich an den reifen Früchten labte. Erst jetzt bemerkte der Wanderer neben dem Hirsch einen Hasen.

Warum werft ihr beide uns nicht ein paar von den Äpfeln hinab? Wir sind hungrig und haben ebenso wie ihr ein Anrecht auf die Früchte des Baums“, wandte sich der kleine Hase zornig an Vogel und Nager, die sich indes um die Klage nicht scherten, derweil der Hirsch ihnen bei ihrem Mal traurig zuschaute.

Was geht hier vor sich“, wollte da der Wanderer wissen. Da blickten ihn die beiden am Boden gebliebenen Tiere kummervoll an und der Hirsch begann mit tiefer Stimme zu erzählen.

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Vor vielen Jahren war‘s, da hörten wir Tiere dieser Gegend von einem gewaltigen Baum, der im unbehausten Waldland des Nordens seine Zweige über alle neun bekannten Welten ausbreite und alles Leben miteinander eine. Dieser Baum trage zu allen Jahreszeiten Früchte, die alle Wesen sättige und ihnen überdies die Augen öffne, was recht und was unrecht sei, erzählte man sich.

Da beauftragten wir Tiere das Rotkehlchen, welches sich auf die Kunst des Fliegens verstand, einen Schössling dieses Baums zu uns in die sandige Heide zu holen. Gesagt, getan. Der kleine Vogel kehrte nach drei Tagen zu uns zurück und trug den ersehnten Ableger im Schnabel mit sich.

Doch wusste das Rotkehlchen nichts weiter mit ihm anzufangen und so war es der Hase, der den Schössling in die magere Krume der Moräne grub. Doch wollte die Pflanze dort nicht so recht Wurzeln schlagen. Das Eichhörnchen wusste weshalb und mischte den Dünensand mit Humus, den es von den fruchtbaren Buchendickichten jenseits der Heide heranschaffte.

Ich aber wässerte sommers an heißen Tagen, wenn einmal nicht der stetige Regen des Nordlandes niederging“, sprach der Hirsch. „Und so gedieh der Schössling unter der gemeinsamen Fürsorge binnen kurzer Zeit zu einem weitverzweigten Baum, der bald schmackhafte Früchte trug.

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Als erster entdeckte diese das Rotkehlchen und erhob darauf Anspruch. „Der die Pflanze von weither in unsere Gegend geholt hat, war ganz allein ich. Einzig mir gebührt es deshalb, mich an seinen Äpfeln zu laben“, sprach es und speiste fortan tagaus und tagein im Baumwipfel.

Das Eichhörnchen sah die Sache ähnlich, schließlich hatte es den Baum gedüngt. Jeden Tag kletterte es vom Wipfel, wo ein Adler, der die Äpfel allerdings verschmähte, seinen Horst eingerichtet hatte, satt zu den Wurzeln hinab. Es tat sich an den Früchten gütlich, deren Reste es den Echsen am Boden überließ.

Auch ich vermochte dank meiner Größe und meines Geweihs noch lange der Äpfel teilhaftig zu werden. Doch als der Baum immer höher und höher wuchs, kam auch ich schließlich nicht mehr in den Genuss seiner schmackhaften Früchte.

Am schlechtesten erging es zweifelsohne dem Hasen, der aufgrund seiner geringen Körpergröße sowie seines Unvermögens des Kletterns von Anfang an leer ausging. Immer wieder hoppelte er um den Stamm des Apfelbaums, schaute zu seinem fernen Geäst empor und witterte sehnsuchtsvoll den betörenden Duft der reifen Früchte.“

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Es dauerte nicht lange und der Hase und ich begannen uns gegen die Ungerechtigkeit aufzulehnen“, fuhr der Hirsch fort. „Wie du siehst, scheren sich Rotkehlchen und Eichhorn allerdings nicht sonderlich darum. Weißt Du vielleicht einen Rat, wie unser Streit gütlich zu schlichten wäre?

Nun“, sprach da der Wanderer, „eines verstehe ich an Deiner Geschichte nicht. Du sagtest, die Früchte des Baums eröffnetem jedem, der von ihnen speise, was recht und was unrecht sei. Offenkundig aber ist die Ungerechtigkeit, die Dir und dem Hasen durch die anderen Tiere widerfährt.“

Sprich. Wo finde ich den Baum, von dem das Eichhorn den Schössling holte?“ Der Hirsch war sichtlich erfreut über die Bereitschaft des Wanderers zu helfen. „Einige Tagesreisen von hier nordwärts. Wenn Du morgen zeitig aufbrichst, wirst Du ihn bereits erblicken, wenn die Sonne ihren höchsten Stand erreicht. Dann musst du immer weiter wandern.“

An seinem Fuße befindet sich eine Quelle, an der die Dreigestaltige, nach der du suchst, schnitzend hockt und dir helfen wird, deine Fragen zu beantworten.“ Ohne den Wanderer weiter zu beachten, der sich wunderte, wie das fremde Wesen, das er doch gerade eben erst kennengelernt hatte, vom Ziel seiner Reise wissen konnte, verschwand der Gehörnte im Dickicht der Zweige. Und auch die übrigen drei Tiere waren mit einem Male fort.

Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sein Lager aufzuschlagen und die Nacht abzuwarten. Ein leichter Regen fiel auf das eilig herbeigeschaffte Laub, das dem Wanderer als Bedachung diente. Der Wind streifte die Zweige des Apfelbaums über ihm und sang ein Lied, das einschläferte.

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Am nächsten Morgen machte er sich zeitig auf den Weg. Und wirklich, gegen Mittag erblickte der Wanderer in der Ferne einen gewaltigen Baum, der sein Geäst weithin verzweigte. Wie groß die Pflanze war, konnte er indes nicht ausmachen. Denn ihr Wipfel war umfangen von grauem Gewölk, das im Westwind über die Himmel raste.

Acht Tage wanderte der Mann ohne das abzusehen war, wann er den Baum erreichen würde. Am neunten Tag war es dann endlich soweit. Wie eine Wand lag der bemooste Stamm vor ihm. Nur zu erahnen war seine Rundung in der Ferne. Ganz so, wie die Wölbung unseres Erdenrunds einzig beim Blick auf weit entfernte Schiffe am Horizont ins Auge fällt.

Als der Wanderer den Stamm berührte, war ihm als würde ein sanfter Lufthauch von der grindigen Borke ausgehen und durch die Finger seiner Hand wehen. Nicht zwischen den Gliedern. Nein, sondern mitten durch sie hindurch, so als würden Knochen und Fleisch keinen Widerstand bieten.

Stunde um Stunde schritt er voran. Seine rechte Hand tastete dabei am Stamm entlang. Warum er das machte, wusste er nicht. Er tat es ganz einfach ohne darüber nachzusinnen. Ein seltsames Gefühl bemächtigte sich seiner. Die Sinne schienen ihm zu singen. Anders ist nicht auszudrücken, was dem Wanderer widerfuhr.

Vom Baum aber ging ein Brummen aus. So tief, dass es weniger zu hören, als tief in den Eingeweiden zu spüren war. Es mischte sich mit einem klirrenden Geräusch, das vom Astwerk in der Höhe kam. So als würden dort die Blätter gleich einem Glockenspiel tönen, wenn sie aneinander stießen.

[23]

Mit einem Male stand er vor der Quelle, von der der Hirsch ihm erzählt. Doch hatte er ein solches Gewässer noch nie zuvor gesehen. Kein lustig sprudelnder Brunnen wars, was sich ihm da am Fuße des Weltenbaums offenbarte.

Schlammsee, durchwirkt von wirrem Wurzelwerk. Lehmig, blubbernd, blutwarm. An seinen Rändern Schwingrasen, unergründlich, bebend, beweglich. Jeglichen Ufersaum verbergend. Moose und Sonnentau fingen Licht ein, das sich zum Grund wagte.

Und dann sah er sie. Vorerst noch in der Ferne. Es waren ihrer drei. Oder war es doch ein einziges Wesen? Sechsarmig, sechsbrüstig, dreiköpfig – den nackten Leib lehmbedeckt hockte die Dreigestaltige zwischen Gewässer und Gewächs. Gleichermaßen in sich gekehrt und weltenzugewandt ritzte sie Zeichen ins Holz, während sie zeitgleich trübe Wasser schöpfte und an den Stamm des Baumes warf.

Das Brummen und Klirren im Gezweig nahm zu, als er sich der Gestalt näherte. Zweige streiften sein Gesicht, doch trieb es ihn unbändig voran. Je weiter er schritt, desto mehr erkannte der Wanderer. Jungfrau, Weib, Greisin.

Als er sich ihr bis auf wenige Schritte genähert hatte, kehrte sie ihm ihre Gesichter zu und bedeutete ihm schweigend, sich zu setzen.

[24]

Da nahm er Platz und begann zu erzählen. Sprach von den Dingen, die ihm widerfahren waren. Von den Menschen und Tieren, denen er auf seiner Reisen begegnet war. Von ihren Geschichten, ihren Ängsten und Nöten. Ihren Wünschen und Hoffnungen.

Er sprach. Neun Nächte lang. Ihm aber war es ein Augenblick. Denn er begann zu gedeihen und zu denken, wuchs wie der Baum, dem man nicht ansehen kann, aus welcher Wurzel er spross – und er fühlte sich wohl. Wort aus dem Wort verlieh ihm das Wort, Werk aus dem Werk verlieh ihm das Werk.

Da wandte sie ihm ihre Gesichter zu. Das junge, das reife, das alte. Sie waren eins. Waren eins mit ihm, er eins mit ihnen. Eine Geschichte, ein Schicksal. Gemeinschaft alles Lebendigen. Darüber Sausen im Blätterdickicht: „Weshalb bist du hier?“ Ihn schauderte und er entgegnete: „Fragen habe ich. Antworten suche ich. Magst du antworten?“

Dreimal darfst Du raten“, sprach da die Dreigestaltige und ein Wispern ging durch die Zweige. Und er erkannte im Klirren und Brummen über ihm die Stimmen unzähliger Wesen. Solcher, die gestorben waren. Solcher, die lebten, und solcher, die erst noch geboren werden würden. Verborgen im Blattwerk raunten sie dem Wanderer rechten Rat. Beredt stumm blickte die Dreigestaltige ihn sechsäugig an, während sie weiter Wasser an den Stamm warf.

In diesem Augenblick erkannte er, dass es das Wasser des Brunnens war, das seine Fragen beantworten würde und dass die Früchte des Ablegers, den die Tiere des Heidelandes hegten, ohne dasselbe kaum Erkenntnis bereithielten. Sobald er diesen Gedanken gefasst, sah er auch schon einen mageren Arm sich ihm nähern und seine Lippen benetzen. Und sie reichte ihm Brunnenwasser, Früchte und Blätter für den Rückweg. Da öffneten sich ihm Augen und Ohren und er erkannte, dass die Fragen des Vaters, der Schlange und der Tiere bedeutsam waren, seine eigene indes belanglos. Drei waren eins. Endlich fiel er zur Erde. Und war all ein.

[25]

Auf seinem Rückweg kam er zuerst ins Heideland. Schon von Weitem bemerkte er den Baum, der ihm nun allerdings nicht mehr so mächtig erschien wie beim letzten Mal. Als er aus den Dünen trat, überraschte er eine Rotte Wildschweine, die bei seinem Anblick kreischend Reißaus nahm und zitternd im Gebüsch sich verbarg.

Die vier Tiere waren indes in ihren alten Streit verwickelt. Rotkehlchen und Eichhorn labten sich an den Früchten, während Hase und Hirsch das Nachsehen hatten. Doch war es ganz offensichtlich, dass Erstere keine große Freude aus ihrem Vorteil zogen. Wie stets, wenn ein Konflikt sich nicht lösen lässt, war auch hier allen Beteiligten ihr Gram anzusehen.

Erwartungsvoll blickten die Tiere den Rückkehrer an, der nicht zögerte und seine Trinkflasche an den Wurzeln des Baums leerte. Daraufhin gebot er den Tieren, die Nacht abzuwarten und am kommenden Morgen von den Früchten ihres Baums zu speisen. Wider ihrer sonstigen Gewohnheiten, taten die Tiere, wie ihnen geheißen. Bereits in der Dämmerung des heranbrechenden Tages begannen sie mit ihrem Werk, das in Erinnerung bleiben würde – über Jahrtausende.

Auch wenn man später den eigentlichen Sinn des Bildes, das sich an jenem frühen Morgen im Heideland, unweit der Gestade eines großen Stroms, bot, vergessen haben würde und das Ganze als sentimentale Kindergeschichte abtat, die zwei wunderliche Brüder aus der Provinz berühmt gemacht hatte:

Der Hase sprang behände auf den Rücken des Hirsches, kletterte an dessen ausgestrecktem Hals entlang und nahm auf dem ausladenden Geweih Platz. Auf seinem Rücken wiederum setzte sich das Eichhorn, woraufhin das Rotkehlchen angeflogen kam und auf dem Haupt des Eichhorns landete. Das Rotkehlchen pflückte die Früchte, welche sich mit dem herangeschafften Wasser des Brunnens vollgesogen hatten, und reichte sie dem Hasen hinab. Dieser gab sie dem Eichhorn, das sie seinerseits an den Hirsch aushändigte.

[26]

Beim anschließenden Abendmahl, das die Tieren im Zwielicht der hereinbrechenden Nacht gemeinsam abhielten, öffneten sich ihnen Verstand und Augen. Mit einem Mal wurde ihnen klar, dass sie alle am Baum Anteil hatten. Denn dies war ihr Leib und das Wasser des Brunnens war der Neue Bund in ihrem Blute.

Sanft strich der Wind durch das Geäst der nahen Pappeln und die vier Tiere vernahmen ein Wispern und Flüstern in den Zweigen des Apfelbaums über ihnen. Gemeinsam hatten sie ihn herbeigebracht, gepflanzt, gewässert und gedüngt. Ohne ihr gemeinschaftliches Tun wäre er niemals gewachsen und gediehen. Bewusst wurde ihnen, dass es keinen Sinn machte, um seine Früchte zu streiten. Nur gemeinsam ließen sich die Dinge bewirken und zum Guten wenden.

Der Baum verband sie alle. Er wuchs gleichsam im Dazwischen. Wie unterschiedlich die Lebewesen auch sein mögen, gleichen sie einander doch in den wesentlichen Punkten. In einem friedlichen Miteinander, das gelegentlichen Streit nicht ausschließt, gehören sie zusammen und tragen mit ihrer Gemeinschaft den Weltenbaum. Jedes an seinem Platz.

Gleichmacherei führt zu Ausgrenzung und Hass. Die Anerkennung der Besonderheit und Einzigartigkeit eines jeden Lebewesens erzielt hingegen Respekt und Demut voreinander. Wie ein großes gemeinsames Wesen ist uns dann die Welt. Ihre Einzelwesen sorgsam getragen in der Gemeinschaft des Lebendigen. Wie tröstlich, da man nicht tiefer fallen kann als in Gaias Schoß.

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Dies alles wurde den vier Tieren bewusst. Das Schwein der Verblendung blieb seither tief im Heidekraut verborgen und traute sich für Jahrtausende nicht mehr hervor. Zumindest bis zu jenem Tag, an dem das Röhren großer Maschinen erstmals die Stille der Wildnis unterbrach und Moor und Heide nachgerade urbar machte und vordergründiger Nutzung zugeführte, die jedoch nur auf den ersten Blick vernünftig erschien.

Allerdings sollte es noch lange dauern, bis es soweit war. Derweil verabschiedete der Wanderer sich von Hirsch, Hase, Einhorn und Rotkehlchen und setzte seine Reise fort, erfreut von der frohen Wendung.

[28]

Silbern war die Farbe der Himmel über saftig nassem Grün. Einmal begegnete er einem einsamen Jäger, der wie er weit herumgekommen war und ihm erzählte, dass die Einheimischen dieser entlegenen Gegenden am Nordwestufer der bekannten Welt tausend Wörter für die Farbe Grün kannten.

Als Orientierung diente dem Wanderer der Sonnenaufgang, der Sternenhimmel, aber auch der Vogelflug. Denn das Jahr war vorangeschritten und der Herbst machte sich inzwischen bemerkbar. Das Laub verfärbte sich in diesen Breiten und nahm die Farbe lodernder Feuer an. In Flammen zu stehen schien das hügelige Waldland. Noch nie zuvor hatte der Wanderer Derartiges erlebt. Und anfänglich fürchtete er gar, dass alles Leben erstürbe, weil er vom Baum der Erkenntnis gekostet hatte.

Das war natürlich töricht, auch wenn später einmal die Hirtenvölker am Rande der Ostufer des mittigen Meeres ähnliche Märchen erzählen würden, um ihren Kindern zu erklären, weshalb sie ihr freies Leben als Jäger und Sammler eingetauscht hatten gegen die Mühsal des Daseins außerhalb des Paradieses.

Indes ängstigte die Kinder jene Erzählung nur und sie begannen als Erwachsene darob ihre Frauen für das Ungemach verantwortlich zu machen, Äpfel zu meiden und insgesamt ständig von Schuld und Sühne zu faseln. Drei Söhne wurden geboren, die einander fortan rechthaberisch in den Haaren lagen, ihr Volk als auserwählt erachteten, später Kreuzzüge unternahmen und noch später sich und andere in die Luft sprengten.

Der Jäger erzählte dem Wanderer jedoch eine andere Geschichte, die auch das Erglimmen und den Fall des Herbstlaubes erklärte:

[29]

Vor Zeiten verliebte sich die Erdige – zu der wir einstmals alle heimkehren werden, um unsere erneute Geburt zu erträumen – in die Tochter des Himmelsgottes, unseres Vaters.

Da wandte sich die Erdige dem Himmlischen zu und bat um die Hand des Mädchens. Wissend um ihre unbändige Macht, schlug der Vater ihre Bitte nicht aus, gewährte sie allerdings auch nicht, was die Erdige dazu veranlasste, das Kind einfach zu rauben, als es gerade auf der Ebene von Erimia Blumen pflückte.

Seinen Blick senkte da der Vater und er verschloss die Ohren vor den Hilferufen. Das Mädchen fügte sich in sein Schicksal und stieg gemeinsam mit der Erdigen hinab in das finstere Reich der Unterwelt, wo sie königlich umsorgt wurde, so dass auch sie bald sich verliebte.

Groß aber war der Gram der Mutter, als sie den Verlust der Tochter bemerkte. Die Grünende raufte sich die Haare und suchte landauf und landab. In ihrem feurigen Schmerz entzündete sie überall, wo sie hinkam, Pflanzen und Blätter, ließ diese verdorren und zur Erde niedersinken. Dies jedoch veranlasste den Vater zum Eingreifen, da die ganze Welt zugrunde zu gehen drohte.

Schließlich erzielte er mit der Erdigen eine Vereinbarung, die vorsah, dass das Mädchen nur des Winters im Erdreich weilen solle. Jeden Frühling jedoch kommt sie seitdem zurück an die Oberfläche und lässt mit ihrem Erscheinen die Pflanzenwelt austreiben und erblühen.

Zurück zu ihrer Geliebten kehrt sie im Herbst. Und davon kommen die Jahreszeiten in unseren Gefilden. Wie auch wir beide, Fremder, wandert das Blumenkind zwischen den Welten.“

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Südostwärts lenkte der Wanderer seine Schritte. Wie auf seinem Hinweg, durchmaß er ausgedehnte Wälder und neblige Moore. Über Weiten jagten wilde Wolken dahin. Flussmündungen und Gebirge querte er. Mückenschwärmen und eisigen Winden ausgesetzt.

Bald bemerkte der Mann, dass auch manche Vögel dieselbe Route nahmen wie er. Da folgte der er dem kastanienbraunen Neuntöter, welcher es sich zur Angewohnheit gemacht hatte, seine Beute auf Dornen aufzuspießen, bevor er sie verschlang. Für eine Weile zumindest folgte er ihm. Nämlich so lange, bis der kleine Vogel nach Süden abbog, um jenseits des mittleren Meeres die große Wüste zu überfliegen, die zu jener Zeit, in der unsere Geschichte spielt, noch fruchtbare Savanne war.

Dort blickte der Vogel aus der Höhe hinab auf schlanke Menschen, die zwischen Baum und Strauch dem Wild nachstellten, in seerosigen Teichen badeten und in ihrer reich bemessenen Freizeit Bilder in den Fels ritzten, die von ihrem frohen Leben kündeten. Noch etwas weiter gen Süden zog der Neuntöter. Entlang eines großen Stroms, an dessen Gestaden in gar nicht allzu ferner Zukunft Priesterkönige gigantische Totenhäuser und Tempel in vollendeter Geometrie errichten lassen würden. Gebräuche und Riten ersannen, die den Kreis des Blumenkindes leugneten und ihre Körper für die Ewigkeit einzubalsamieren trachteten.

Endlich gelangte der Vogel in sein Winterquartier, das uns heute gemeinhin als Wiege der Menschheit gilt. Als der Ort, wo unserer aller Wanderung vor langer Zeit begonnen hatte. Wo wir von den Bäumen stiegen, uns aufrichteten, um den Horizont zu betrachten, das Feuer und den Stein zähmen lernten und zur Sprache fanden, die uns zu dem machte, was wir sind. Doch dorthin zurück zog es den Wanderer diesmal nicht. Angekommen am Ostufer des mittigen Meeres lenkte er seinen Weg ostwärts. Immer wärmer und sonniger wurde es. Fels wich Steppe, sommergrüner Laubwald ging in Hartlaubvegetation über. Endlich gelangte er in jenen Wald, der zwischen Gärten und Äckern lag und in dem er einstmals der Schlange begegnet war.

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Angekommen am Bachlauf zwischen niedrigen Binsen und Moospolstern, die zur Rast einluden, nahm er Platz und blickte auf kristallklare Fluten. Wasser: Kommt es zum Stillstand, verliert es sich.

Endlich erschien im Gezweig das kantige Antlitz der Königskobra. Wohlgenährt züngelte die Schlange und wand ihren muskulösen Leib um das grindige Holz des Bodhibaums. „Es freut mich, Dich wohlauf zu sehen“, sprach der Mann. „Wie ist es Dir in der Zwischenzeit ergangen?“

Nun, ich habe den Rat der Seherin befolgt und mich wacker gehalten“, entgegnete die Natter. „Verborgen im Gestrüpp stellte ich Echsen und kleinen Schlangen nach, anstatt mich an Menschen zu vergreifen. Wer mir jedoch dumm gekommen ist, den habe ich drohend in die Flucht geschlagen. So fand ich ein gutes Maß der Dinge. Doch sprich: Bist du ihr begegnet und weiß sie Rat?“

Da berichtete der Wanderer der Kobra von seiner Begegnung mit der Dreigestaltigen und dass dieselbe keine Seherin und schon gar keine Heilige wäre. Vielleicht sei sie in dieser Form hierzulande einmal in Erscheinung getreten, um in der zivilisierten Welt nicht weiter aufzufallen. Dort im wilden Land gen Sonnenuntergang jedoch habe sie ihm ihre wahre Erscheinung offenbart. Und diese sei jenseits alles Menschlichen gewesen.

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Wie dem auch sei“, sagte die Schlange. „Konntest du denn in Erfahrung bringen, was mir zu meiner Verwandlung fehlt?“ Der Wanderer entgegnete, dass die Schlange diesen Weg schon lange beschritten habe, alles Weitere würde sich fügen. Zuletzt auch die körperliche Veränderung. Denn nichts sei beständiger als der Wandel. Alles wäre im Fluss. Alles fließe. Ganz so wie der Leib der Schlange, wenn er in Bewegung gerate und sich ums Geäst wand.

Das eigentliche Ziel aber sei es, zum Gefäß reiner Ideen zu werden, in dem fortwährend neue Substanzen erzeugt, aufgefangen, umgewälzt und zurückgeführt würden, bis schließlich der Geist sich zum neuen verständigen Embryo verdichtet habe, welcher der Geburt harre. Ein Akt der inneren Alchemie, der Selbstbefreiung sozusagen, die erkennt, dass alles miteinander in Beziehung steht und ineinander verflochten ist.

Dass es zwischen Selbst und Welt keine Grenzen gibt. Außen und Innen eins. Gestern ins Morgen weise. Das Andere das Eigene sei. Sie Wir. Und umgekehrt. Ich Du. Doch da dies die Natter bereits begriffen habe, bedürfe die vollständige Wandlung nur eines Stein des Anstoßes, gleichsam des Steins der Weisen, wenn man so wolle.

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Also gab der Wanderer der Schlange von den Früchten des Baums zu essen, dem man nicht ansehen kann, aus welcher Wurzel er spross. Und ihr wurde bei diesem Mahle mit einem Mal gewahr, was sie eigentlich schon immer gewusst hatte. Da streifte sie ihre alte Haut ab, die ihr eng geworden war, entfaltete ihre darunter liegenden Flügel im lichten Morgen, feingliedrig glänzend, und erhob sich in die Lüfte.

Vielmals danke ich Dir“, sprach der Drache aus der Höhe zu dem am Boden Gebliebenen. Auch seine Stimme hatte sich mit der Häutung gewandelt, war jetzt wohlklingender und klarer. Schlange war Drache geworden. „Meine alte Haut überlasse ich Dir. Sie dient demjenigen, der sie trägt, als ein Schutz. Vielleicht kennst du wen, der des Schutzes bedarf.“

Ja, der Mann kannte jemanden. Er sagte dem Drachen Lebewohl und machte sich erneut auf den Weg, von dem er wusste, das dieser zwar niemals enden, ihn bald jedoch zu einem weiteren Ziel führen würde, welches zumindest diese Geschichte zu einem Abschluss brachte.

[34]

Nun wanderte er durch prächtige Gärten und Mangohaine, wie er sie von frühen Kindheitstagen her kannte. Bald weitete sich das Land. Hirse- und Reisfelder traten an Stelle schattiger Hage. Sonne des Südens brannte vom Himmel herab. Der Heimkehrer war um jeden Papayabaum froh, der ihm Schatten spendete. Seine Zeit im kühlen wolkenverhangenen Nordwesten hatte zwar gegen Kälte abgehärtet, ihn jedoch auch empfindlicher bei Wärme gemacht.

Hitze flimmerte über Ebene. Leben, weil Feuer ist. Sonne des Tages, gewaltig an Hoheit. Strahlen säugen Felder. Aber dies niemals ohne Wasser. Im stillen Gewässer besieht der Mensch sein Spiegelbild, im fließenden jedoch gewahrt er den Anderen in sich selbst. Und begreift, dass das weiche Wasser in Bewegung mit der Zeit den harten Stein besiegt. Du verstehst, das Harte unterliegt.

Dem Wanderer war, als würden die Ochsengespanne der Bauern über der weiten Fläche schweben. Spiegelung, die der Hitze geschuldet war. Vielheit als Schein. Trugbild der Begrenzungen. Vom Mond aber ist keine Sonnenglut zu fürchten. Ebbe und Flut wechseln einander ab.

Endlich kam er zum Anwesen des Reichen, das in jenem kühlen waldigen Tal lag, durch das der Bach floss, an dessen Ufern er einstmals das Geläut des Elefantengottes vernommen hatte. Je näher er trat, desto höher erschien ihm der schmiedeeiserne Zaun, der den Park Ganeshas umgab, auf dessen Grasflächen, wie er wusste, Fasane stolzierten, während im korkigen Geäst der Lupinenbäume Zerline ihre schuppigen Leiber aneinanderschmiegten und durch vergitterte Fenster ins Palastinnere blickten.

[35]

Der Reiche und seine Gemahlin hatten den Wanderer bereits erwartet, da dessen Eintreffen ihnen von Spähern gemeldet worden war, welche Anwesen und umgebende Güter tagaus und tagein bewachten. In der Halle des Hauses baten sie ihn Platz zu nehmen. Selbstverständlich erst, nachdem herbeigeeilte Diener ihn zum Waschraum geführt und ihm saubere Kleider bereit gelegt hatten. Ganz so, wie es die Gastfreundschaft gebot.

Wovor habt ihr eigentlich Angst?“, begann der Wanderer das Gespräch. Erstaunt betrachteten die beiden Eheleute den Mann, dem man die Entbehrungen der langen Reise ansehen konnte. Doch dann verstanden sie und senkten ihre Blicke.

Es war die Frau, die endlich das Schweigen brach: „Hast du denn heute überhaupt schon gegessen?“ wollte sie wissen. „Wie unachtsam von uns, dich hungrig vor uns treten zu lassen.“ Da der Mann stumm seinen Kopf schüttelte, ließ man den Koch rufen. Ein Hahn wurde geschlachtet und der Wanderer steuerte die mitgebrachten Blätter von jenem Baum bei, dem man nicht ansehen kann, aus welcher Wurzel er spross.

Schweigend nahmen sie im Feuerschein gemeinsam ihre Mahlzeit ein, und den beiden Reichen war es, als wären sie wieder daheim in ihrem Dorf, wo sie als Fischer in bescheidenen Verhältnissen glücklich gelebt hatten.

Da luden sie ihr ganzes Gesinde ein, in die Halle zu kommen und mit ihnen zu speisen. Und hießen die Tore ihres Anwesens öffnen. Weil der Hahn bereits verzehrt war, ließ man zwei Fische und fünf Brote aus der Speisekammer herbeischaffen und verteilte sie unter den Anwesenden. Und trotzdem der Hofstaat zahlreich war und immer mehr Menschen von außerhalb des Zaunes sich einstellten, die von dem Fest vernommen hatten, wurden alle satt.

[36]

Im wahrhaftigen Gemeinwesen ist jeder gleichermaßen arm wie auch reich. Reich, weil alle das haben, was sie benötigen. Und arm, weil keiner etwas besitzt. Zugleich dienen die Menschen dort nicht den Dingen, sondern die Dinge ihnen.

Bald war der Palastgarten mit Feiernden übersät. Einige von ihnen hatten Musikinstrumente mitgebracht und die Leute tanzten und sangen ausgelassen inmitten der Lichter zahlreich entzündeter Feuerstellen. Neugierig spähten die Zerline aus ihren Koben im schattigen Gezweig herab auf das bunte Treiben am Boden. Heute war an Schlaf nicht zu denken.

Dazwischen saß der Wanderer. War angekommen. Im Dazwischen. Fröhlichen Gemütes inmitten der Menschen. Denn Freude ist ein Parfüm, dass man nicht auf andere versprühen kann, ohne selbst ein paar Tropfen abzubekommen.

Er dachte daran, dass alles Leiden in der Welt daher rührt, dass wir einem als unabhängig gedachten Selbst so etwas wie Dauer, Bedeutung und Einzigartigkeit verleihen wollen. Grenzen dort ziehen, wo keine sind. Uns mit unersättlicher Gier alles einverleiben, dessen wir habhaft werden. Nur um an eigener Bedeutung zu gewinnen, sich in Scheinsicherheit zu wiegen. Begrenzt, borniert, betrübt. Dabei der Illusion anheimfallend, dass es ein permanentes, von der übrigen Welt getrenntes Ich gäbe. Hahn des Habenwollens, des Anhaftens.

Was sich uns dabei in den Weg stellt, uns Widerstand entgegengesetzt, erregt unseren Hass. Weil es uns hindert, unseren Willen nach Macht zu verwirklichen. Einer Macht, die nicht dem Gemeinsinn dient – was Heilung brächte – sondern ganz allein der eigenen Eitelkeit. Schlange der Wut, der Ablehnung. Hahn und Schlange aber folgen dem Schwein der Unwissenheit, welches sich in unerträglicher Gleichgültigkeit suhlt. Nicht teilt, anstatt der Welt teilhaftig zu werden.

Insgeheim wüssten wir aber, dachte er bei sich, dass alles vergänglich sich im Wandel befände. Nichts ewigen Bestand habe. Denn alle Phänomene, Wesen und Daseinsformen existieren ohne einen unveränderlichen Wesenskern. Alles entsteht, dauert und zerbricht, um sich wieder neu zu formen, abhängig von allem Übrigen.

Das zu spüren macht uns unsicher, obwohl es uns doch eigentlich froh machen sollte. Weil uns diese Erkenntnis lehrt, dass man nicht tiefer fallen kann als in Gaias Schoss. Alle Erscheinungen sind in Beziehungen verflochten, verbunden im Einen, Unendlichen, Unsagbaren. Nicht bewerten, wählen und auseinanderreißen gebietet uns das Leben. Begeben wir uns stattdessen in den Fluss des Daseins, um dort gemeinsam Freude, Glück und Zufriedenheit zu finden.

Ist das der Mann, der uns vor drei Jahren besucht hat, liebe Eltern?“, fragte die Tochter des Hauses, welche vom fröhlichen Lärmen wachgeworden und in den Garten niedergestiegen war. Das stumme Kind war inzwischen erwachsen geworden und hatte ihre Sprache wiedergefunden.

Welf-Gerrit Otto [zwischen Friesland, Oldenburg und Leipzig 2021]

Wer sich selbst und andere kennt,
Wird auch hier erkennen:
Orient und Okzident
Sind nicht mehr zu trennen.

[Johann Wolfgang von Goethe, 1749 – 1832]

Schüler: Was ist der wahre Weg?
Lehrer: Der alltägliche Weg ist der wahre Weg
Schüler: Wie kann ich ihn erlernen?
Lehrer: Je mehr du ihn erlernst, desto weiter kommst du ab vom Weg.
Schüler: Wenn ich ihn nicht erlerne, wie kann ich ihn dann erkennen?
Lehrer: Der Weg gehört weder zu den bekannten Dingen, noch zu den unbekannten.
Suche ihn nicht, lerne ihn nicht, benenne ihn nicht und du bist auf dem Weg. Sei offen und weit wie der Himmel und du bist auf dem Weg.

[Nanquan Puyuan, 748 – 835]