Industrialisierung und Automatisierung: Bergleute und Fabrikarbeiter
1800-1970
Die Arbeit schafft mich, doch Kohle muss ran / Damit ich abends einen heben kann / Das Leben ist auch so schon schwer / Doch ohne Geld läuft gar nichts mehr / Das Leben ist Arbeit, da kann man nichts machen / Weil die Reichen sich ins Fäustchen lachen / Hier kommst du nicht raus, auch nicht durch Krepieren / Weil die Bonzen garantiert auch den Himmel regieren“
[„Saufbauch“, Canal Terror 1983]
Die Wirtschaftsweise des Menschen hat sich in den vergangenen Jahrtausenden grundlegend geändert. Bedenkt man, dass wir unser Auskommen für Jahrmillionen als Jäger und Sammler bestritten haben, ist unsere heutige Dienstleistungsgesellschaft von minimaler Dauer. Sesshaftwerdung, Ackerbau und Viehzucht sind vergleichsweise junge Entwicklungen. Die Landwirtschaft nur ein Wimpernschlag in der Geschichte der Menschheit. Umso mehr gilt dies für Industrialisierung und Digitalisierung.
Für Jahrmillionen folgen unsere Ahnen den Spuren wilder Tiere, bevor sie vor etwa zwölftausend Jahren die Landwirtschaft erfinden. Die meiste Zeit ihrer Existenz auf diesem Planeten lebten die Menschen als umherstreifende Jäger und Sammler. Erst als Bauern werden sie sesshaft. Ab diesem Zeitpunkt beginnt Privatbesitz eine besondere Rolle zu spielen. Der Mensch macht sich die Natur untertan. Nicht mehr auf Augenhöhe befindet er sich fortan mit der Tierwelt. In der Welt der Wildbeuter hatten unsere Altvorderen ihren Mitgeschöpfen einen besonderen Respekt gezollt, der im Paläolithikum seinen Ausdruck in den beeindruckenden Höhlenmalereien Südwesteuropas findet. Als der Mensch dann im Neolithikum sesshaft wird, beginnt er die Natur nach seinen Vorstellungen zu formen. Das Antlitz der Erde wird mittels Brandrodung und Pflug verändert und für den Anbau urbar gemacht. Durch Zucht formt man Gestalt und Ertrag von Pflanzen und Tieren. Förmlich eine zweite Schöpfung ist die Jungsteinzeit mit ihrer immensen menschlichen Einflussnahme auf die Umwelt.
Der Beginn der Jungsteinzeit fällt ziemlich genau mit dem Ende der letzten Eiszeit zusammen, dem Weichsel-Glazial. Mit dem Abschmelzen der Gletscher in Mitteleuropa hält die erdgeschichtliche Epoche des Holozäns Einzug, was etwa mit „das völlig Neue“ übersetzt werden kann. Und völlig neu ist nicht allein das Klima. Binnen weniger Jahrtausende kommt es auf dem Gebiet der menschlichen Kultur zu einer regelrechten Explosion von Neuerungen. Ackerbau, Viehzucht, Steinschliff, später Keramik, steinerne Architektur, bäuerliche Siedlungen werden angelegt, Tempel erbaut, Städte errichtet.
Mitunter behaupten einige Neunmalklugen, der von dem australischen Archäologen Vere Gordon Childe 1936 eingeführte Begriff der Neolithischen Revolution[1] sei irreführend. Die Neuerungen hätten sich über einen Zeitraum von rund fünftausend Jahren vollzogen, was einer Revolution, die sich doch rapide ereignen würde, nicht entspräche. Doch diesen fünftausend Jahren steht ein Zeitraum von etwa zweieinhalb Millionen Jahren gegenüber, in dem sich die Technologie und Wirtschaftsweise nur unwesentlich verändert hat. Von einer Revolution zu sprechen ist daher keineswegs abwegig.
Aber warum war die Menschheit nicht bereits zu einem früheren Zeitpunkt auf den Trichter gekommen, sich mittels Ackerbau und Viehzucht und all den daran anschließenden Errungenschaften die Welt untertan zu machen? Anatomisch, und damit auch intellektuell, hat sich der moderne Mensch in den letzten dreihunderttausend Jahren nur wenig verändert. Und zwischen den Glazialen gab es immer wieder ausgedehnte Warmzeiten, während derer ein zivilisatorischer Hochsprung möglich gewesen wäre, etwa das Eem-Interglazial vor rund hundertsechsundzwanzigtausend bis hundertfünfzehntausend Jahren.
Oder waren die Relikte und Artefakte aus Urzeiten, die eine damalige Existenz hochentwickelter Zivilisationen belegen würden, einfach von den gewaltigen Gletschern der nachfolgenden Eiszeiten zerrieben worden? Wir können es nicht sagen, obgleich es zumindest möglich erscheint. Ungewöhnlich ist es allemal, dass der Mensch für Jahrmillionen als Wildbeuter lebt, um sich dann plötzlich auf dem Bauernhof, kurze Zeit später in der Fabrik und schlußendlich am Computer oder im Jobcenter wiederzufinden. Das ist schon starker Tobak. Zugegeben. Manch einer bedient sich da eines besonderen Kunstgriffs. Die Prä-Astronautik behauptet etwa den Einfluss außerirdischer Besucher auf den enormen Innovationsschub zu Beginn des Neolithikums.[2]
Wie dem auch sei. Ob aus den Tiefen des Alls von extraterrestrischen Lebensformen eingeflogen oder von uns Erdlingen selbst entwickelt – die Jungsteinzeit bringt jedenfalls große Veränderungen in der Lebensweise der Menschen mit sich. Für viele tausend Jahre ist die Landwirtschaft in unserer Region die mit Abstand am weitesten verbreitete Lebensform. Jagd und Fischfang spielen fortan nur noch eine untergeordnete Rolle. Erst vor etwa zweihundert Jahren sollte sich dies ändern. Eine neue Revolution in der Wirtschaftsweise des Menschen bricht sich Bahn. Die Industrielle Revolution. Es beginnt alles mit der Erfindung und Optimierung der Dampfmaschine in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts. Die bis dato verwendete regenerative Energienutzung verliert zunehmend an Bedeutung. Vom Land in die Stadt verlegt sich die Lebenswelt der Menschen.
Wind- und Wasserkraft geraten für etwa zweihundert Jahre ins Hintertreffen. Stattdessen bedient man sich fossiler Energieträger, reißt die Erde auf und schöpft aus ihren Eingeweiden. Dampfmaschine und später Verbrennungsmotor zeitigen eine enorme Effizienzsteigerung im Produktions- und Transportwesen. Immer mehr Menschen arbeiten im industriellen Bereich, Fabriken binden zunehmend Arbeitskraft. Eine agrarisch geprägte Gesellschaft wandelt sich in eine industrielle. Aus Bauern werden Proletarier. Unerhörte Folgen hat dies in allen Lebensbereichen. Maschinen übernehmen das Regiment. Nicht mehr Jahreszeiten, Sonnenauf- und Sonnenuntergänge, sondern das Räderwerk der Chronometer bestimmt fortan den Tagesablauf der Menschen.
Um die Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert erfolgen weitere Neuerungen in den Fabrik- und Fertigungshallen sowie im Erscheinungsbild der Städte, so dass man heute diese Jahre als Zweite Industriellen Revolution benennt. Die breite Verwendung elektrischer Energie, der Einsatz von Fließbändern und anderen Optimierungsmaßnahmen in der Massenfertigung führen zu einer weiteren Effizienzsteigerung. Daneben wird durch geschickte Einflussnahme auf die arbeitende Bevölkerung der Grundstein unserer heutigen Konsumgesellschaft gelegt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg dann gewinnen elektronische beziehungsweise computergesteuerte Fertigungstechniken zunehmend an Bedeutung. Der steigende Bedarf an elektrischem Strom wird durch Kohleverstromung sowie Atomenergie gedeckt. Die sogenannte Dritte industrielle Revolution nimmt in den 1970er Jahren an Fahrt auf und ist geprägt von Elektronik, Computertechnik und Robotik. Als Arbeit 4.0 oder schlicht Vierte Industrielle Revolution werden heute jene einschneidenden Veränderungen in der Arbeitswelt bezeichnet, die etwa seit der Jahrtausendwende durch Internet und Digitalisierung Einzug in unseren Alltag gefunden haben.
Hörtipps zur Lektüre:
- „Working Man Blues“, Blind Boy Fuller, Album: Complete Recorded Works in Chronological Order, Volume 3, 1937
- „Working Class Hero“, John Lennon, Album: John Lennon / Plastic Ono Band, 1970
- „Sixteen Tons“, Tennessee Ernie Ford, Album: You don`t have to be a Baby to cry, 1955
Dampfmaschinen, Automatengötter, Aufbruchstimmung
„Im düstern Auge keine Träne / Sie sitzen am Webstuhl und fletschen die Zähne: / Deutschland, wir weben dein Leichentuch, / wir weben hinein den dreifachen Fluch.“
[„Die schlesischen Weber“, Heinrich Heine, 1844]
Vor rund zweihundert Jahren erlebt die Menschheit, ausgehend von einer kleinen, einige Jahrhunderte zuvor noch völlig unbedeutenden Insel im Nordatlantik, einen tiefgreifenden Bruch mit ihren bisherigen Lebens- und Arbeitsgewohnheiten. Seit der Neolithisierung hatte es keine vergleichbare Umwälzung gegeben.[3] Nicht innerhalb mehrerer Jahrtausende breitete sich diese Welle über unseren Planeten aus, innerhalb von Jahrzehnten rollte sie über ihn hinweg.
Die Folgen für die Erde erweisen sich als von epochaler Dimension, so dass manch einer mittlerweile von einem völlig neuen Erdzeitalter spricht, das in seinen Anfängen auf die Auswirkungen der Industriellen Revolution zurückzuführen sei. Der Begriff Anthropozän beschreibt ein Zeitalter, in dem die menschliche Einflussnahme sich in geologischer, klimatischer und biologischer Hinsicht nachhaltig im Antlitz des Planeten festgeschrieben hat.[4] Erderwärmung und Klimawandel sind menschengemacht, auch wenn das einige Kleingeister – etwa der Trampel, den andere Idioten zum Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika gewählt haben – immer noch nicht zugeben wollen. Kurzsichtiges Profitdenken siegt über nachhaltige Weitsicht. Doch was wird aus unseren Kindern? Schon heute flüchten viele Menschen weltweit vor den Folgen des Klimawandels: Desertifikation, Extremwetterlagen und Meeresspiegelanstieg. Kyoto-Protokoll und Pariser Klimaabkommen versuchen die Auswirkungen zwar einzudämmen. Und bei jedem Weltklimagipfel werden erneut pathetische Phrasen gedroschen und erbauliche Bilder von Walen und niedlichen Kindern gezeigt. Dies alles jedoch ohne konkrete Ergebnisse auf politischer und wirtschaftlicher Ebene zu zeitigen. Ein Umdenken setzt nicht ein. Auf deutschen Autobahnen rasen weiterhin geschwindigkeitsunbeschränkt riesige SUVs gleich gigantischen Penisprothesen über den Asphalt. In jedem der überdimensionierten Wagen jeweils nur ein kleines blasses Männlein oder Weiblein im Cockpit.
Der Treibhauseffekt lässt sich nicht aufhalten, wenn die Megastädte Asiens, Südamerikas und Südafrikas weiter unkontrolliert wachsen und immer mehr Kohlenstoffdioxid in die Atmosphäre katapultieren. Und die Leute wollen sich nicht belehren lassen. „Was wollt ihr uns erzählen?“, fragen die wirtschaftlich aufstrebenden Nationen, die man vormals Dritte Welt nannte, den Westen. „Ihr könnt uns doch nicht unsere Entwicklung verbieten! Ihr seid doch selbst diesen Weg gegangen.“ Das Ganze gleicht einem Generationenkonflikt. Kaum einer ist bereit, aus den Fehlern seiner Vorgänger zu lernen. Und so suhlt manch einer sich im postkolonial wiedergewonnenen Selbstbewußtsein eines albernen Nationalstolzes, der genaugenommen nicht mehr ist als pubertäres Gehabe gepaart mit der Profitgier einiger Weniger. Nur das hierbei nicht Zigaretten heimlich im hintersten Winkel des Pausenhofs gepafft werden, sondern die Fabrikschlote ungefiltert qualmen. Ihren Ausgang jedenfalls nahm diese unselige Entwicklung vor etwa zwei Jahrhunderten auf der besagten kleinen Insel im Nordatlantik, die damals noch von grünen Auen bestanden und von sauberen Gewässern durchzogen war. Großbritannien gilt als Keimzelle der Industrialisierung. Hier begann ein neues Weltzeitalter, und hier begann vieles, was unsere heutige prekäre Situation ausmacht.
Alles fing damit an, dass ein mittelloser Schotte, der seine Mechaniker-Lehre abgebrochen hatte und als Autodidakt Werkzeug- und Instrumenten-Reparateur an der Universität Glasgow geworden war, eine zu diesem Zeitpunkt bereits bekannte aber unausgegorene Erfindung perfektionierte und als Patent anmeldete. James Watt bekam 1764 von seinen Vorgesetzten den Auftrag, die von Thomas Newcomen konstruierte Dampfmaschine zu überarbeiten. Was er daraus machte, war nichts Geringeres als eine neue Weltordnung. Denn die neue Erfindung ließ sich für alle möglichen Zwecke einsetzen, und sie übertraf die Kraft von Mensch und Tier bei weitem.
Das Inselkönigreich im Nordwesten Europas bietet der Industrialisierung ideale Voraussetzungen: Mildes Klima, dem Transport zuträgliche geographische Bedingungen, ergiebige Kohlelager, vielfältige Rohstoffvorkommen und ausgedehnte Absatzmärkte durch Kolonialbesitz in Übersee. Dampfmaschinen revolutionieren Transport und Produktion gleichermaßen. Erstmals in der nordenglischen Textilindustrie eingesetzt, steigern Dampfmaschinen die Effizienz beträchtlich. Handarbeit wird mechanisiert und automatisiert. Legionen von Ingenieuren schaffen immer neue Einsatzgebiete für die Maschine. Kessel, Kolbensysteme, Zugriemen, Zahn- und Schwungräder sorgen für den Antrieb von Pumpen, Sägewerken, Dampfschiffen. Anfang des neunzehnten Jahrhunderts überträgt der britische Maschinenbauer Richard Trevithick das Prinzip auf die Bahnschiene und erfindet so die Lokomotive.
Die Eisenbahn sollte zum wichtigsten Katalysator der Industriellen Revolution werden.[5] Sie war Voraussetzung der Schwerindustrie und verkürzte Transport- und Reisezeiten enorm. Riesige Gebiete, etwa der nordamerikanische Westen, konnten nur mittels der Eisenbahn erschlossen werden. Dampflokomotiven wurden zum qualmenden Symbol des Fortschritts.[6] Und überhaupt raucht und dampft es während der Industrialisierung im neunzehnten Jahrhunderts vielerorts. In rauhen Mengen verbrennt man Kohle, um die Maschinen am Laufen zu halten. Während auf der Erdoberfläche der Fortschritt an Fahrt aufnimmt, schuftet man unter Tage, um den benötigten Rohstoff zu gewinnen. Berge werden ausgehöhlt und Landschaften aufgerissen, um an die begehrte Kohle zu kommen.
Das „schwarze Gold“ aus den Tiefen der Bergwerke entstammt der erdgeschichtlichen Epoche des Karbons vor rund dreihundertfünfzig Millionen Jahren. Damals hatten Urfarne, Schachtelhalme und Schuppenbäume ausgedehnte Sumpfwälder gebildet, bevölkert von riesenhaften Libellen und anderem urzeitlichen Getier. Was von den Wäldern übrigblieb, wurde zu Steinkohle. Gebündelte Sonnenenergie, gespeichert über Jahrmillionen. Nun entzündet man es, um die Maschinen in Bewegung zu setzen. Die Maschinen, die Fortschritt und Wohlstand bringen sollen. Über Jahrmillionen gebundenes Kohlenstoffdioxid wird innerhalb kürzester Zeit an die Atmosphäre abgegeben. Nicht nur als Energielieferant für Dampfmaschinen verwendet man Kohle im neunzehnten Jahrhundert, auch für die Stahlerzeugung wird der Rohstoff in beträchtlichem Umfang benötigt. Eisen und Ziegel werden zu den vorherrschenden Baustoffen einer ganzen Epoche.[7]
Zu dieser Zeit leben etwa eine Milliarde Menschen auf unserem Planeten. Innerhalb kurzer Zeit wächst die Bevölkerung Deutschlands auf über vierundzwanzig Millionen im Jahr 1800 an. Die anfänglich durch verbesserte Lebensbedingungen verursachte Bevölkerungsexplosion zeitigt allerdings bald eine gewaltige soziale Misere, da die wirtschaftliche Produktivität nicht mit den gestiegenen Anforderungen mithalten kann. Immer mehr Menschen verarmen. Zwar bringt die Bauernbefreiung der Landbevölkerung ein gewisses Maß an Eigenständigkeit. Doch zu welchem Preis? Die unteren Bevölkerungsschichten geraten als Lohnarbeiter bald in neue Abhängigkeitsverhältnisse. Unternehmerschaft und Proletariat bilden die Gegensätze, aus denen sich die Gesellschaft des neunzehnten Jahrhunderts konstituiert. Der Wohlstand der einen gründet auf die Ausbeutung der anderen.
Die Massenverelendung zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts, gemeinhin als Pauperismus bezeichnet, führt zu enormen Migrationsbewegungen. Viele Menschen wandern in die Neue Welt aus, um in Amerika, wo man sich fern gesellschaftlicher Zwänge wähnt, das Glück zu suchen. Der amerikanische Traum wird geboren. Doch auch innerhalb des deutschsprachigen Raums kommt es zu gewaltigen Binnenmigrationsströmen. Man wandert in die Städte ab, um in den neu entstehenden Fabriken als Arbeiter sein Auskommen zu finden. Die Lebensbedingungen dort sind indes alles andere als ideal. Man haust beengt in zugigen Mietskasernen.
Massenverelendung ist eine unerwünschte Begleiterscheinung des Übergangs von der Stände- zur Industriegesellschaft. Erst 1889 wird im Deutschen Reich eine flächendeckende Rentenversicherung eingeführt. Die rasante Industrialisierung im neunzehnten Jahrhundert führt durch Landflucht und Urbanisierung dazu, dass immer mehr Menschen aus dem sozialen Netz ihrer dörflichen und familiären Strukturen fallen und spätestens am Ende ihres Lebens bedürftig werden. Otto von Bismarck erkennt die soziale Sprengkraft dieser Entwicklung.[8] Doch weniger Menschenliebe als vielmehr politisches Kalkül treiben den Reichskanzler dazu, sich für die Rente stark zu machen. Indem Bismarck sich für die Rentenversicherung einsetzt, will er der seinerzeit erstarkenden Sozialdemokratie den Wind aus den Segeln nehmen. Damals gab es nämlich noch eine Sozialdemokratie, die diesen Namen verdient.
Urbanisierung und Industrialisierung fordern den Menschen eine völlig andere Lebens- und Arbeitsweise ab. War die bäuerliche Art des Lebens und Wirtschaftens eng an den Bedingungen der Natur ausgerichtet, etwa an Jahreszeit, Sonnenauf- und Sonnenuntergängen, Klima und Wetter, ist dies in der schönen neuen Welt des Industriezeitalters ganz und gar nicht mehr der Fall. Ganz im Gegenteil. Der Tagesablauf eines Bergmanns oder Industriearbeiters ist vollständig entkoppelt von natürlichen Prozessen. Nicht die Dauer des Tageslichts bestimmt den Arbeitstag, sondern die Räderwerke der Werksuhren. Künstliche Lichtquellen ermöglichen einen eloquenten Schichtdienst rund um die Uhr.
Die Gründung des Deutschen Kaiserreichs 1871 setzt den Beginn der Hochindustrialisierung in Mitteleuropa. Mitunter spricht man auch von einer Zweiten Industriellen Revolution, die in jenen Jahren ihren Ausgang nimmt.[9] Geprägt ist sie von einem weiteren technischen Meilenstein, der Elektrifizierung. Elektromotoren, Fabrik- und Straßenbeleuchtungen – elektrischer Strom findet vielfältige Einsatzmöglichkeiten und wird zur unbedingten Voraussetzung weiterer Erfindungen und Automatisierungsprozesse.
Ohne Elektrizität keine moderne Informationstechnik. Morseapparate und später Fernsprechanlagen beziehungsweise Telephone wären ohne die raffinierte Nutzung der Elektrizität niemals erfunden worden. Ist die Industrialisierung anfänglich geprägt von ausgeklügelten, nichtsdestotrotz eher grobschlächtigen Titanen aus Stahl und Ziegeln, deren saurierhafte Mechanismen Kohle verschlingen, Räderwerke antreiben und dabei Feuer speien, geht die Entwicklung um das Jahr 1900 immer mehr in Richtung filigraner Elektrifizierung. Hinzu kommen in jener Zeit die Erfindung sowie der massenhafte Einsatz des Verbrennungsmotors. Automobile ersetzen zunehmend dampfbetriebene Fahrzeuge und prägen bald das Straßenbild der großen Städte.
Die Soziale Frage indes ist eng verbunden mit den technischen und gesellschaftlichen Transformationsprozessen des neunzehnten Jahrhunderts.[10] Eine rasant anwachsende Bevölkerung schafft ein lohnarbeitendes Proletariat, das unter enormen Existenzunsicherheiten und anderen Zumutungen leidet. Doch mit der Ausbeutung der Arbeiterklasse wächst auch Widerstand und Solidaritätsgedanke. Arbeitervereine, später politische Parteien und Gewerkschaften setzen sich für die Belange der Arbeiter ein. Philosophische und politische Denker, etwa Karl Marx oder Friedrich Engels, schreiben sich den Klassenkampf auf die Fahne.
Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts wird der Produktionsablauf in den Fabriken und Werkshallen weiter optimiert. Der aus gutem Hause stammende Ingenieur und ambitionierte Tennisspieler Fredrick W. Taylor entwickelt zu dieser Zeit eine raffinierte Prozeßsteuerung von Arbeitsabläufen, die weit über seine US-amerikanische Heimat hinaus bekannt werden sollte. Immer effizienter, schneller und produktiver will man werden. Denn auch die Konkurrenz schläft nicht. Der Wettbewerb peitscht Unternehmen an, Gewinn und Wachstum wollen gesteigert werden. Im Taylorismus wird die Arbeit in kürzeste und monoton-repetitive Arbeitsschritte unterteilt. Tatsächlich können durch diese Kleinteiligkeit des Produktionsprozesses höhere Leistungsvorgaben erzielt werden.
Etwa zur selben Zeit schraubt der Tüftler und Unternehmer Henry Ford, der später auch für seine antisemitischen Schriften berühmt-berüchtigt werden sollte, an neuen Automodellen herum.[11] Auch der sogenannte Fordismus bemüht sich um eine Effizienzsteigerung und setzt dabei insbesondere auf Automatisierung. Hoch spezialisierte, monofunktionale Maschinen und Fließbandfertigung sorgen für hohe Produktionszahlen. Und auch der Absatz wird gesteigert, indem vergleichsweise hohe Arbeitnehmerlöhne gezahlt, soziale Sicherungssysteme implementiert und eine lebenslange Vollbeschäftigung garantiert werden. Auch die Einführung des Achtstundentages dient der Steigerung der Verkaufszahlen. Denn durch den Zuwachs an Freizeit steigt die Kaufbereitschaft der Arbeiterschaft. Ford schafft somit die Grundlagen der heutigen Konsumgesellschaft, die uns seither in allen erdenklichen gesellschaftlichen Kontexten prägt, unseren gesellschaftlichen Status und unser soziales Miteinander bestimmt und Weihnachten zum Kaufrausch werden lässt.
Henry Fords Ideen bleiben keineswegs auf die Produktion von Automobilen beschränkt. Sein Einfluss ist derart umfassend, dass beispielsweise im prophetischen Science-Fiction-Roman „Schöne neue Welt“ von Aldous Huxley die Zeitrechnung nach dem Unternehmer ausgerichtet wird.[12] Veröffentlicht 1932 spielt die dystopische Geschichte im Jahre „632 nach Ford“, sieben Ford-Aufsichtsräte teilen sich die Weltherrschaft. Menschen werden am Fließband produziert und man betet innig „Gelobt sei Ford am Lenkrad“.
Welf-Gerrit Otto
Früher: Sisyphos 2 – Die Vertreibung aus dem Paradies
Später: Sisyphos 4 – Zwischen Fitnessstudio und Jobcenter
Hörtipps zur Lektüre:
- „Solidaritätslied“, Hannes Wader, Album: Hannes Wader singt Arbeiterlieder, 1977
- „Fließbandbaby, manchmal träum ich“, Floh de Cologne, Album: Fließbandbabys Beat-Show, 1970
- „Railroad Blues“, Sam McGee, Album: Old-Time Mountain Blues, 1934
Anmerkungen
[1] Vgl. Childe 2003.
[2] Vgl. etwa Däniken 1968.
[3] Vgl. Gehlen 1961: 99.
[4] Vgl. Crutzen/Davis 2011.
[5] Vgl. Schivelbusch 2000.
[6] Hörtipp zum Sujet: „Lummerlandlied“, Soundtrack Erstverfilmung „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“, 1961/1962, Musik: Hermann Amann, Text: Manfred Jenning.
[7] Vgl. Mislin 2002.
[8] Vgl. Kolb 2009.
[9] Friedmann 1936.
[10] Vgl. Sievers 1991.
[11] Vgl. Watts 2006.
[12] Huxley 1960.