Begegnungen (Collage, W.-G. Otto 2020)

Die Kindliche Kaiserin

Für Kinder ist die ganze Welt beseelt. Im Spiel wandeln sich scheinbar unbelebte Gegenstände in Lebendiges, Kuscheltiere sprechen akzentfrei die menschliche Sprache und Zweige werden im Spiel wahlweise zu Seeungeheuern oder Segelschiffen. Inneres und Äußeres vermischen sich miteinander, die Erscheinungen sind untrennbar miteinander verwoben. Die Welt ist groß, bunt und voller Geheimnisse. Meine sechsjährige Tochter verwandelt sich regelmäßig in einen Hund, einen Dinosaurier und dann wieder zurück in einen Menschen. Alles im Kosmos erweist sich als von einer transzendenten Kraft durchzogen, auf die mittels magischer Verrichtungen Einfluss genommen werden kann, durch Symbole, Gesten, Geräusche.

Keine geordneten, dem Primat der Wirtschaftlichkeit gehorchenden Forste sind die Wälder der Kindheit. Im Anfang sprießt und wurzelt es ununterbrochen im beseelten Blätterdickicht. Allerorten tummeln sich Einhörner und Feen zwischen dem Gehölz, im Untergrund rumoren Zwerge. Man kann diese Wesen durch Gesang beschwören, und ein am Wegesrand aufgehobener Stock wird durch eine aufgesetzte Kastanie zu einem Zauberstab, später zu einem Wikingerschiff mit dem man den Mond bereist. Überall ungebeugte Kraft, massenhaft. Getragen von Flugsauriern und gebettet in das weiche Moos einer lebendigen Erde kann man nicht tiefer fallen als in Gottes Hand.

Heutigentags und hierzulande verändern sich die Landschaften der Kindheit mit dem Älterwerden in besonderer Weise. Aus Wildnis wird Weideland, aus Weideland Industriebrache. Sicher ist mit dem Erwachsenwerden immer und überall eine Verwandlung des Wesens verbunden, das hängt allein schon mit den körperlichen Veränderungen zusammen. Aber in unseren auf materiellen Ertrag und wirtschaftliche Effizienz ausgerichteten Leistungsgesellschaften kommt ein besonderer, nicht zuletzt auch für den Erhalt unseres Planeten nicht unwesentlicher Punkt hinzu: Die Entzauberung der Welt. Und damit beginnt unsere Geschichte.

Wittmunder Wald (Foto, W.-G. Otto 2020)

Zwischen den Dörfern

In einer fruchtbaren Tiefebene am Südstrand eines Meeres lebt Sylvie auf dem Gelände eines großen landwirtschaftlichen Betriebes. Bis zum Horizont breiten sich Wiesen und Felder aus, rechtwinkelig unterbrochen nur von Entwässerungskanälen und befestigten Verkehrswegen. Das Kiebitzweibchen, das am Beginn unserer Geschichte den Hof auf der Suche nach einem Brutplatz überfliegt, nimmt die Landschaft aus der Höhe als verschiedenfarbiges Schachbrettmuster wahr.

Erst am nahen Saum des Meeres bricht sich die eintönige Geradlinigkeit der Wiesen und Felder in der ungestalten Brandung des Gezeitenstroms, der sich jenseits des Deiches noch in kein Korsett hat zwingen lassen. Wasser und Mond zeichnen unverdrossen runde und geriffelte Formen in den Sand des Gestades.

Durch Produktivitätszuwachs und zunehmende Automatisierung war der Erwerbstätigenanteil in der Landwirtschaft in Sylvies Gegend in den vergangenen hundertzwanzig Jahren signifikant zurückgegangen. Gleichzeitig ist der Ertrag enorm angestiegen. Hatte ein Bauer um 1900 nur Nahrungsmittel für vier weitere Personen erzeugt, versorgt ein Landwirt ihrer Tage mehr als 150 Menschen. Der Produktionserlös landwirtschaftlicher Güter hingegen erweist sich alles andere als rentabel. Derart niedrig sind die Endverbraucherpreise im Supermarkt, dass man im ganz großen Stil ackern muss, um aus der Angelegenheit noch Gewinn zu schlagen.

Landpartie in Ostfriesland, Ldkr. Wittmund (Foto, W.-G. Otto 2020)

Der Traktorist

Das weiß auch Joris, der den Traktor in diesem Augenblick auf die Hofauffahrt zusteuert, sichtlich darum bemüht, den Schleppschlauch-Ausbringer bei diesem Manöver nicht zu gefährden. Alles kostet Geld. In der vergangenen Woche waren Leute aus der Stadt am Hof vorbeigefahren. Auf Fahrrädern. Joris wundert sich noch immer. Die haben bestimmt so eine romantische Vorstellung vom Landleben. Er grinst in sich hinein, als er den Deutz-Fahr Agroton nahe des Güllesilos zum Stehen bringt, den Motor ausschaltet und den Ansaugstutzen in die streng riechende dunkle Masse manövriert.

Ohne agrarindustrielle Prozesse und Massentierhaltung jedenfalls ist nichts zu machen, denkt er. Ein Dorf weiter krautet zwar so ein Ökobauer mit Fellweste und Schmierbart vor sich hin, der aber ist eine Ausnahme. Die Dörfler belächeln den schrulligen Alten und schütteln den Kopf über die unverschämten Preise in seinem Hofladen, die einige Städter erstaunlicherweise zu zahlen bereit sind. Das ist doch alles Quatsch. Joris macht sich daran, den befüllten Güllewagen vom Silo abzukoppeln, um dessen Inhalt auf das nahe Feld auszubringen, welches bereits in Stickstoff, Phosphor und Kalium schwimmt und an dessen Rändern große Populationen von Brennnesseln alle anderen Pflanzen verdrängt haben. Doch wohin mit den Unmengen an Jauche, welche die Schweine tagtäglich in ihren finsteren Verschlägen produzieren? Die Leute wollen schließlich billiges Fleisch.

Man hatte sich auf Stallhaltung und Maisproduktion im großen Stil spezialisiert. Alle Bauern in der Umgebung übrigens. Zwar wird man damit nicht reich, kommt aber irgendwie über die Runden, was nicht zuletzt den großzügigen Subventionen geschuldet ist, die gleich dem Inhalt eines lecken Gülletransporters aus Brüssel regelmäßig in die Provinz schwappen. Und so lässt es sich ganz gut aushalten im Labyrinth der grün-braunen Rechtecke, die zugegebenermaßen zum Himmel stinken. Mitunter ist sogar eine jährliche Fernreise mit der Familie drin. Man sollte froh darüber sein, dass man noch immer von dem Land leben kann, das bereits die Vorväter im Schweiße ihres Angesichts bestellt hatten, resümiert Joris. Die Gegend ist durchaus fruchtbar, auch wenn man dabei etwas nachhelfen muss. Mit einem Ruck schwenkt der Schleppschlauch-Ausbringer mittels digital gesteuerter Hydraulik zur Seite und entleert den Inhalt des Anhängers mit einem unanständigen Geräusch auf das Land.

Waldwesen (Zeichnung, Franka-Henrike Gerritsdottir 2020)

Der Schandfleck

Unterdessen war Sylvie auf ihr Fahrrad gestiegen und hatte sich auf den Weg zum Nachbargrundstück gemacht, wo ihre Schulfreundin mit ihren Eltern wohnt. Die beiden Mädchen haben seit einiger Zeit die Angewohnheit angenommen, ihre nähere Umgebung zu erkunden. Ihre Eltern lassen sie ziehen. Schließlich kennt in der Gegend jeder jeden, und von den beiden nimmt man aus Erfahrung an, dass sie sich nicht selber in Gefahr begeben. Außerdem haben die Mädchen beide ein Smartphone bei sich, dass sie im Notfall benutzen können. Im Übrigen ist die heimatliche Agrarwüste derart übersichtlich und geordnet, dass man sich in ihr weder verlaufen noch verstecken kann. Alles ist von überall aus einsehbar – fast alles.

Denn am Rande eines großen Kieswerks, dessen Betreten selbstverständlich verboten ist, breitet sich in einer kleinen Anhöhe ein Wäldchen aus, noch unberührt von den Flurbereinigungsmaßnahmen der vergangenen Jahrzehnte. Einen Schandfleck nennen es die Dörfler.

Dort befinden sich auch einige halbzerfallene Baracken, die im letzten Krieg als Munitionsfabrik gedient hatten und die offenbar noch immer, zumindest zeitweise, bewohnt werden. Von wem, weiß niemand so recht. Vermutlich von Asozialen und Landstreichern – Leuten, die die Einsamkeit suchen, weil sie ein schlechtes Gewissen haben. An lauen Sommerabenden hört man bei günstigem Wind Stimmen und Kinderlachen vom bewaldeten Hügel herüberwehen. Zwar hat es bisher noch keine Klagen gegeben, aber die Dörfler waren sich einig, dass es so nicht weitergehen konnte.

Spiegel im Spiegel, Wittemoor (Foto, W.-G. Otto 2020)

Herz der Finsternis

An jenem Wochenende im zeitigen Frühjahr jedenfalls schlagen Sylvie und ihre Freundin die Warnungen in den Wind und nähern sich auf ihren Fahrrädern dem Gehölz, das sie zuvor nie so richtig wahrgenommen hatten. Der Wind streicht durch das noch kahle Geäst. Ein kleiner Fluss, der an dieser Stelle noch nicht begradigt ist, murmelt unter dem fahlen Schilf des Vorjahres. Eigentlich ist es hier doch ganz schön, bemerkt Sylvie. Was haben die Leute nur gegen das Wäldchen. Die Mädchen lehnen ihre Räder an eine knorrige Erle und setzen sich auf einen großen Stein, den die letzte Eiszeit hier abgelegt hat. Am jenseitigen Flussufer sehen sie die Gebäude der ehemaligen Munitionsfabrik durch das Astwerk der Weiden schimmern.

Wolken huschen über den Himmel, hier im Wald ist alles so verschieden. Nichts ist rechtwinkelig, Sanddünen verlieren sich sanft im Gesträuch des Unterholzes. In der Ferne bellt ein Reh. Oder was war das eben für ein Geräusch? Die bereits kräftige Sonne des Vorfrühlings erwärmt den Findling, auf dem die Mädchen hocken. In Sylvie breitet sich eine Ruhe aus, die sie einschläfert, die sie an früheste Kindertage erinnert. Sie kann sich des Eindrucks nicht erwehren, langsam mit der Umgebung zu verschmelzen. Wo beginnt sie, wo endet sie? Ein Schauer läuft ihr über die Haut, sie wird eins mit dem Gurgeln des Bachs und dem Wind in den Weiden.

Sie schaut zu ihrer Freundin hinüber, kann diese aber nicht sehen. War sie gegangen, ohne dass Sylvie es bemerkt hatte? Sie weiß es nicht, will es auch nicht wissen, so müde und zufrieden ist Sylvie mit einem Mal. Sie fühlt sich getragen und eine seltsame Musik erklingt aus ihrem Innern. Das Moos des Steins erglimmt für einen Moment. Und dann ist da nur noch Finsternis. Keine bedrohliche, eher eine vorgeburtliche. Aber das denkt Sylvie bereits nicht mehr, sie spürt es nur.

Anderswelt (Zeichnung, Franka-Henrike Gerritsdottir 2020)

In der Anderswelt

Sylvie erwacht vom Flüstern einer Kinderstimme und findet sich auf dem großen Stein wieder. Allein. Keiner ist bei ihr und auch die Umgebung scheint eine andere zu sein. Oder doch dieselbe, in der sie eingeschlafen war? In unmittelbarer Nähe jedenfalls schlängelt sich noch immer ein Fluss durch die Landschaft, die nun allerdings ganz anderen Pflanzen trägt. Statt vertrauter Brennnesseln und Springkraut bemerkt das Mädchen Besenheide und Zistelgräser zu seinen Füßen. Insgesamt ist alles viel sandiger und hügeliger als sie es in Erinnerung hat. Weiden und Erlen säumen das breite Kiesbett des kristallklaren Gewässers. Am seltsamsten allerdings ist der Umstand, dass Sylvie, als sie sich nach den Äckern und Weiden ihrer Heimat umschaut, keine dort erblickt, wo diese eigentlich hätten sein sollen. Stattdessen breitet sich ein ausgedehntes Hochmoor vor ihren Augen aus. Das Wäldchen ist keine Insel im Agrarland, sondern ein bewaldeter Geesthügel inmitten eines ausgedehnten Moores.

Hochmoor. Endlose Weite, baumlos. Konvexe Wölbung ins Unendliche. Kein Gewächs über Kniehöhe, nirgends Schattenwurf und Regenschutz, nur weite Himmel über dem Morast. Moospolster, gezirkelt allein durch den Horizont. Weithin schwimmendes Kraut, olivgrün, gelbgrün, braungrün. Schwingrasen. Dazwischen Kolke. Schwarze unergründliche Wasserlöcher bilden Muster im nassen Schwamm des Grüns. Unbehaustes Grenzland fern der Menschenwelt, nicht See noch Land. Erhaben und ungeheuerlich gleichermaßen.

Nun wäre an dieser Stelle sicher einiges darüber zu sagen, was Sylvie an diesem fremden und doch vertrauten Ort erlebt. Viel jedenfalls hat sie darüber später nicht erzählt. Wie konnte sie auch? Die Leute, die ihr dort begegnet waren, hatten ihr streng verboten, von ihren Erlebnissen zu berichten. Immerhin wurde ihr schnell klar, dass sie offenbar aus der Zeit gefallen war und die Gegend nun so erlebte, wie sie einstmals, als nur wenige Menschen dort ansässig waren, wohl gewesen sein mochte. Aber es war nicht nur das, so hatte es den Anschein. Der Frau des Kiesgrubenbesitzers würde sie später einmal sagen, dass es sie anfänglich erschreckt habe, als sie im Wind in den Zweigen plötzlich zarte Stimmen vernahm.

Die Laubfrau, Hasbruch-Urwald bei Hude (Foto, W.-G. Otto 2020)

Die Laubfrau

Die Bäume sprechen wortlos. Außerdem können sie ihr Äußeres verändern. Mitunter treten sie als Eulen mit leuchtenden Augen in Erscheinung oder als kleine Wichte, die wie Puppen auf den Ästen der anderen Bäume tanzen. Unter der Erde halten sie sich bei der Hand. Denn in der Dunkelheit breitet sich das Geflecht der Pilzlinge aus – Zwerge, die flüsternd Geschichten raunen, die bald der ganze Wald kennt. Himmelwärts aber katzenhafte kleine Gesellen mit mühlradgroßen Augen. Sie leuchten im Zwielicht des Dickichts, huschen durch das Laub der Baumkronen, über denen Wolken jagen.

Die Seelen verstorbener Wesen gehen in die Bäume ein und verbinden sich mit ihnen, wird seit jeher gesagt. Sie seien aber keineswegs Elfen, versichern ihrerseits die Bäume. Diesen Quatsch würden sich die Menschen später einmal ausdenken, wenn sie der Sprache der Bäume schon längst nicht mehr mächtig waren und alles, was sie an Zauberhaftem nicht verstehen konnten, mit kitschigem Zuckerguss überzogen. Das würde zu jener Zeit geschehen, als es in Mode kam, dass Landvermesser den Boden in kleine Quadrate zerschnitten, auf denen dann etwas später Lokomobile Heiden und Moore umpflügten, um auf den vormals unbehausten Wüsteneien mittels anorganischer Chemie Nutzpflanzen in Monokultur anzubauen.

All das erzählten die Bäume Sylvie. Nach einer Weile bedeuteten sie dem Mädchen zu gehen, da die Laubfrau in Kürze aus dem Untergrund aufsteigen werde, wo sie den Winter bei ihrem Gemahl verbracht habe. Menschen würden sie erschrecken, was im schlimmsten Fall dazu führen konnte, dass die Laubfrau für immer in die tieferen Bodenschichten entweicht. Mit ihr übrigens auch das Grundwasser, was allerdings eine eher schnöde naturwissenschaftliche Herleitung sei, wie die Bäume zugeben mussten. Fakt sei jedenfalls, dass alle Pflanzen in diesem Fall keine Blätter und Früchte mehr tragen würden, was natürlich fatal sei, wie Sylvie sicher verstehen würde.

Pilzlinge (Foto, W.-G. Otto 2018)

Wieder zurück

Zurück in der Menschenwelt – Sylvie hatte erneut die Passage über den großen Findling genommen – macht sie sich sofort auf den Weg nach Hause. Ihr Fahrrad steht nicht mehr dort, wo sie es zurückgelassen hatte und so muss das Mädchen zu Fuß gehen. Das erste was ihr beim Betreten des Hofes auffällt, ist der neue Traktor, der die Einfahrt ziert. Vom Deutz-Fahr Agroton jedenfalls findet sich keine Spur. Stattdessen steht ein mächtiger Beowulf 66-MFG mit Gleiskettenlaufwerk in der Einfahrt. Wie kommt der so schnell hierher? Am Morgen, als sie mit dem Fahrrad aufgebrochen war, hatte der jedenfalls noch nicht dort gestanden.

Aber wie groß ist ihre Verwunderung erst, als ihre Eltern aus dem Haus gestürzt kommen und sie freudig in die Arme nehmen. Von ihnen erfährt Sylvie, dass sie ein ganzes Jahr fortgewesen war. Man hatte sie bereits für tot gehalten. Ihre Freundin hatte berichtet, dass Sylvie an jenem denkwürdigen Tag im vergangenen Jahr plötzlich verschwunden sei. Umso glücklicher ist man natürlich, sie nun unbeschadet wiederzuhaben. Zwar wird Sylvie in den folgenden Wochen immer wieder gefragt, wo sie eigentlich die ganze Zeit über gewesen sei, doch hütet sie sich, den Leuten die Wahrheit zu sagen. Stattdessen erzählte Sylvie, dass sie sich nicht genau erinnern könne. Und so hört man schließlich mit dem ständigen Nachfragen auf, schiebt alles auf einen möglichen Schock und begnügt sich bald mit der Freude über ihre unverhoffte Rückkehr.

Zwischen den Welten (Collage, W.-G. Otto 2020)

Umgehungsstraße

Allerdings wärt die Idylle nicht allzu lange. Zahlreiche Anwohner wollen das wilde Wäldchen auf dem kleinen Hügel inmitten der wohlgeordneten Kulturlandschaft nicht mehr dulden. Sie finden es inakzeptabel, einen Schandfleck. Statt die Gegend weiterhin verwildern zu lassen, sollte man sie lieber einer angemessenen Nutzung zuführen. Außerdem sei es nun an der Zeit, die lang ersehnte Umgehungsstraße zu bauen, der innerörtliche Verkehr sei kaum mehr auszuhalten. Das Gelände müsse folglich gerodet und planiert, der kleine Fluss kanalisiert werden, bevor man mit dem Straßenbau begänne. Es solle endlich Schluss sein mit der Unordnung.

So diskutiert man im Gemeinderat – in einer Art, die von allem den Preis, nicht aber den Wert kennt. Am folgenden Tag wird eine Baufirma zur Durchführung der Flurbereinigungsmaßnahmen engagiert, die dem Neffen eines Ratsmitglieds gehört. Als Sylvie von ihrem Vater erfährt, dass der Nachbar den Beowulf 66-MFG von Joris‘ angemietet hat, um in Kürze mit der Maßnahme zu beginnen, bekommt sie einen Schreck. Weiß sie doch, dass im wilden Gehölz die Laubfrau haust. Wenn der Wald gerodet wird, steht es schlecht auch für die Menschen.

Geisterwald (Collage, Franka-Henrike Gerritsdottir 2020)

Das Fest

Doch dazu wird es glücklicherweise nicht kommen. Ausgerechnet Joris sorgt dafür, wenn auch unwissentlich. Nach der Auftragsvergabe für die Flurbereinigungsmaßnahme gibt es ein großes Gelage im Gasthaus des Nachbardorfes. Denn zahlreiche Einheimische meinen, dass sie von der Verwandlung des Wilden Gehölzes in eine Teilstrecke der Umgehungsstraße finanziell profitieren werden und gießen sich eingedenk dessen ordentlich einen auf die Lampe.

Auf dem Heimweg, schon etwas wackelig auf den Beinen, kommt Joris am Wald vorbei. Als er ein Rascheln im Laub hört und dann in ein paar große rote Augen blickt, die einem kleinen mausgroßen haarigen Tierchen vor sich auf dem Waldweg gehören, bekommt er zuerst einen Schreck. Doch der Schnaps hat ihn mutig gemacht. Beherzt greift er zu und fängt das kleine Geschöpf ein, das sich erstaunlicherweise nicht zur Wehr setzt, und das er im Halbdunkel für ein zahmes Eichhörnchen hält.

Daheim, immer noch im Suff, sperrt Joris es in einen der leeren Karnickelställe und wankt anschließend gut bedient zu Bett. Doch wie groß ist seine Verwunderung, als er am nächsten Morgen vor die Tür tritt und eine Menschenansammlung bei den Ställen ausmacht, darunter auch Sylvie. Alle starren wie gebannt auf das vermeintliche Eichhörnchen, das soeben ein Gedicht von Klaus Groth in niederdeutscher Sprache rezitiert.

Apotheose des rechten Winkels, Ldkr. Wittmund (Foto, W.-G. Otto 2020)

Forschungszentrum

Kurzum. Wissenschaftler werden hinzugezogen, unter ihnen namhafte Taxonomen und Kryptozoologen. DNA-Analysen legen nahe, dass es sich bei dem Geschöpf um einen genetisch veränderten Vertreter der Familie der Koboldmakis aus dem südlichen Ostasien handelt. Das Neozoon war offenbar im Bauch von Handelsschiffen in die Gegend gekommen und hatte dank des Klimawandels sein Habitat im Wilden Gehölz gefunden. Es hatte sich mit einheimischen Eichhörnchen verpaart, infolgedessen eine neue Spezies entstanden war, die erstaunlicherweise zur Reproduktion befähigt ist. Weshalb das nur im Wilden Gehölz endemisch vorkommende Tier allerdings spricht, bleibt vorerst ein Geheimnis. Linguisten sind derzeit weltweit damit beschäftigt, des Rätsels Lösung zu finden.

Das wilde Gehölz jedenfalls wurde unter strengen Schutz gestellt, die ehemalige Munitionsfabrik zum internationalen Forschungszentrum ausgebaut, das sich seither im interdisziplinären Verbund mit verschiedenen Kooperationspartnern neben den naturwissenschaftlichen insbesondere auch mit den mythologischen und kulturübergreifenden Aspekten dieses Phänomens befasst.

Welf-Gerrit Otto

Hörtipp zur Lektüre: „Calling Occupants of Interplanetary Craft“ (The Carpenters 1977)

Das Neozoon (Assemblage, W.-G. Otto 2020)