Von der Industrialisierung bis zur Renaturierung

„In der Wildnis liegt die Erhaltung der Welt“

[Henry David Thoreau]

Wildwuchs statt Authentizitätsfetischismus (Bourtanger Moor, Niedersachsen, Welf-G. Otto, 2007)

Hochmoor. Endlose Weite, baumlos. Konvexe Wölbung ins Unendliche. Kein Gewächs über Kniehöhe, nirgends Schattenwurf und Regenschutz, nur weite Himmel über dem Morast. Moospolster, gezirkelt allein durch den Horizont. Weithin schwimmendes Kraut, olivgrün, gelbgrün, braungrün. Schwingrasen. Dazwischen Kolke. Schwarze unergründliche Wasserlöcher bilden Muster im nassen Schwamm des Grüns. Unbehaustes Grenzland fern der Menschenwelt, nicht See noch Land. Erhaben und ungeheuerlich gleichermaßen.

 

Industrialisierung: Deutsche Hochmoorkultur

Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam es im Zuge neuer naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und moderner Technologien zu einschneidenden Veränderungen in der Kultivierung der Hochmoore. Etwa einhundert Jahre sollte diese letzte Phase der Moorkolonisation währen, welche die völlige Auslöschung der Naturlandschaft Moor in Norddeutschland zur Folge hatte. Rund 99 Prozent der ehemaligen Hochmoorgebiete sind inzwischen vernichtet. Was bleibt sind Kleinstreservate und touristisch erschlossene Renaturierungsbemühungen.

1877 wurde von der Preußischen Moorversuchsstation in Bremen ein neues Verfahren der Urbarmachung von Hochmoorflächen entwickelt. Im Gegensatz zur Fehnkultur, die in erster Linie die Rohstoffgewinnung und Besiedlung des Ödlands verfolgte und zur Erhöhung der Fruchtbarkeit neben oberflächlicher Düngung durch Schlamm immer noch auf den Moorbrand setzte, zielte die sogenannte Deutsche Hochmoorkultur primär auf eine durch biochemische Verfahren vorangetriebene Erschließung für die Landwirtschaft. Zu diesem Zweck wurde das Moor zuerst entwässert. Im Abstand von etwa zwanzig Metern installierte man Drainage-Systeme. Nachdem die Vegetation vollständig entfernt worden war, wurde das Gelände gefräst und planiert. Anschließend kalkte man den Boden bis zu einem pH-Wert von etwa 4,0 mit Branntkalk oder Mergel auf. Abschließend wurde mit Kalium, Phosphor und Kupfer gedüngt. Nicht selten verwendete man in küstennahen Regionen für die Düngung auch Fischabfälle, die mittels Eisenbahn herangeschafft wurden.

Bei der Deutschen Hochmoorkultur handelte es sich entsprechend der Neuerungen der Zeit also um ein wahres Chemie-Labor, das den Boden sozusagen neu definieren sollte. Die erhoffte Wirkung stellte sich allerdings nur sehr eingeschränkt ein. Nachdem in den ersten Jahren insbesondere Kartoffeln und andere Hackfrüchte angebaut worden waren, verdichtete sich der Boden mit den Jahren durch Absacken und Torfoxidation so stark, dass er nur noch als Grünland genutzt werden konnte.

Etwa zur selben Zeit in der die zweifelhafte Deutsche Hochmoorkultur eingeführt wurde, begann man nach neuen Absatzmöglichkeiten für den Rohstoff Torf zu suchen. Bereits in früheren Jahrhunderten hatten die Anwohner großer Moorgebiete die wasserspeichernden und geruchsbindenden Eigenschaften der oberen Weißtorfschichten erkannt. Doch erst um 1880 entwickelte sich die Torfstreuverarbeitung zu einem neuen Industriezweig. Ursache hierfür war die wachsende Konkurrenz der Steinkohle, die den Schwarztorf als Brennmaterial zunehmend verdrängte. Folglich wurden andere Verwendungs- und Vermarktungsmöglichkeiten für den durch die Kultivierungsmaßnahmen reichlich anfallenden Rohstoff Torf gesucht und gefunden.

Torfstreu aus Weißtorf konnte zur Düngeraufbereitung und als Streumaterial für Viehställe eingesetzt werden. 1879 errichtete man die erste Torfstreufabrik im niedersächsischen Gifhorn. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs gab es im gesamten Deutschen Reich bereits weit über hundert derartiger Anlagen. Die Torfindustrie wurde nicht müde, immer neue Verwendungsmöglichkeiten des Weißtorfs anzupreisen, beispielsweise als Verpackungsmaterial, Desinfektionsmittel, als Dämmstoff oder zur Gasreinigung. Der Ausverkauf hatte begonnen.

 

Nachkriegszeit: Sandmischkultur

Das endgültige Ende des heimischen Hochmoors wurde nach dem Zweiten Weltkrieg eingeläutet. Im Grenzgebiet zwischen dem niedersächsischen Emsland und der niederländischen Provinz Drenthe breitete sich zu dieser Zeit noch das ehemals größte Hochmoorgebiet Westeuropas aus. Das Bourtanger Moor war das letzte Refugium einer annährend intakten Hochmoorlandschaft in Mitteleuropa. Im Zuge des Emslandplans begann man in den 1950er Jahren damit, das rückständige Gebiet mit erheblichem technischen Aufwand und finanziellen Mitteln aus den USA zu modernisieren.

Die Motive für die aufwendige Aktion gründeten einerseits in Grenzstreitigkeiten mit den Niederlanden, andererseits in den demographischen Herausforderungen der Nachkriegszeit. Die nordwestdeutsche Grenze war im Bereich des Bourtanger Moors nicht exakt kartographiert. Von den Erschließungsmaßnahmen erhoffte man sich Klarheit in dieser Angelegenheit. Man wollte den Niederländern durch die Moorkultivierung sozusagen zuvorkommen. Der zweite Grund für die zügige Umsetzung des Emslandplans bestand in den umfangreichen Migrationsströmen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten. Die Flüchtlinge waren auf Wohnraum und Nahrung angewiesen. Beides erhoffte man sich durch eine effiziente Erschließung des Nordwestens bereitstellen zu können.

Durch das neu entwickelte Sandmischkultur-Verfahren wurden die Moorflächen innerhalb weniger Jahrzehnte vollständig in Agrarland umgewandelt. Gewaltige Maschinen kamen dabei zum Einsatz. Die von der westfälischen Firma Ottomeyer entwickelten, bis zu dreißig Tonnen schweren Mammut-Pflüge konnten Moore mit einer Torfauflage von etwa zwei Metern binnen kürzester Zeit kultivieren. Sie brachen das Ödland bis zu seinem sandigen Untergrund auf und schichteten den Boden vollständig um. Horizontal übereinander liegende Sand- und  Torfschichten gerieten dabei in eine vertikale Stellung. Anschließend wurde in einen weiteren maschinellen Bearbeitungsschritt durch Vermengung ein optimales Torf-Sand-Mischverhältnis erzeugt. Drainage und tiefgründige Durchmischung des Bodens gingen bei diesem Verfahren Hand in Hand.

Mittels der Sandmischkultur wurden im Emsland seit den 1950er Jahren jährlich etwa 1100 Hektar Fläche für die Landwirtschaft urbar gemacht. Insgesamt konnten innerhalb kürzester Zeit rund 140 Tausend Hektar Moorland in Kultur genommen werden. Der Emslandplan schoss ein ehemals rückständiges Gebiet gleichsam von der Urzeit direkt in die Moderne. Allerdings wurden weite Flächen des neu geschaffenen Acker- und Grünlandes niemals dauerhaft in Nutzung genommen. Reist man heutigentags durch die westniedersächsische Provinz, begegnen einem in der öden Agrarwüste vor allem große Stallanlagen. Abgeschirmt von der Außenwelt, wird dort Hühner- und Schweinemast industriell und im großen Stil betrieben.

 

Gegenwart: Renaturierung

Kaum hatte man das Hochmoor in Mitteleuropa vollständig ausgelöscht, begann man es auch schon zu vermissen. In den umweltbewegten 1980er Jahren wurde die mit den letzten großen Moorerschließung betraute Emsland GmbH aufgelöst – ganz einfach, weil es nichts mehr zu tun gab. Etwa zur selben Zeit verabschiedete die niedersächsische Landesregierung ein erstes Moorschutzprogramm. In anderen Bundesländern kam es ebenfalls zu diesem Paradigmenwechsel. Eine wesentliche Ursache für den Sinneswandel bestand neben einem neu entdeckten Bewusstsein für den Umweltschutz angesichts vielfältiger Zerstörungsszenarien in tiefgreifenden wirtschaftlichen Transformationsprozessen.

Im Verlauf der 1960er Jahre vollzog sich in den westlichen Industrienationen ein bedeutender gesellschaftlicher Strukturwandel, der bis in die Gegenwart fortdauert. Seit dieser Zeit verlagert die Industrie ihre Produktion verstärkt in Länder mit günstigeren Herstellungskosten. Das gilt nicht zuletzt für die Rohstoffgewinnung, also auch für Torfindustrie und Landwirtschaft. Im Zuge dieser Entwicklung nahm auch die Zahl der verbliebenen Arbeitsplätze in der verarbeitenden Industrie durch Automatisierung und Produktivitätssteigerung rapide ab. Der Transport der Produkte aus weit entfernten Weltgegenden wurde gleichzeitig immer kostengünstiger. Im Inland indes band der Dienstleistungssektor gegenüber den anderen beiden Sektoren Landwirtschaft und Industrie immer mehr Arbeitskräfte und Kaufkraft an sich. Westdeutschland wurde durch die sogenannte Tertiarisierung allmählich zu einer Dienstleistungsgesellschaft.

Die Torflager der norddeutschen Moorgebiete waren zu diesem Zeitpunkt bis auf kümmerliche Reste abgebaut. Folglich verlagerte die Torfindustrie ihre Produktion zunehmend in andere Länder. Gleiches galt auch für die landwirtschaftliche Produktion. Zwar gab man Industrie und Landwirtschaft nicht vollständig auf, sie wurden aber vielerorts stark reduziert und automatisiert. Neue Einnahmequellen mussten insbesondere in strukturschwachen Gegenden gefunden werden. Entsprechend der Spielregeln der Dienstleistungsgesellschaft bot sich der Tourismus als neue Möglichkeit an. Allerdings waren für eine erfolgreiche Umsetzung gewissen Anreize notwendig.

Großstädte bieten eine Vielfalt kultureller Attraktionen. Auf dem Land hingegen kann oft nur mit landschaftlichen Reizen gepunktet werden. Alleinstellungsmerkmale sind dabei von Vorteil. 1975 wurde beispielsweise die Deutsche Märchenstraße gegründet. Ländliche Regionen, die in irgendeinem Zusammenhang mit den Märchen der Brüder Grimm stehen, haben sich in diesem touristischen Verbund zusammengeschlossen, um Besucher gezielt anzuwerben. In den postindustriellen Landschaften Norddeutschlands gestaltete sich die Angelegenheit allerdings schwieriger. Also setzte man in einigen Gegenden auf das Hochmoor als Zugmittel. Der Tourismus war mit Sicherheit nicht der einzige Auslöser für die seit den 1980er Jahren einsetzenden Renaturierungsbemühungen. Aber er war mit Sicherheit ein bedeutender. Und was war auch sonst mit den brachliegenden Flächen anzufangen?

Also wies man Naturschutzgebiete aus und begann mit der Wiedervernässung. Dämme wurden errichtet und ehemalige Moorflächen planiert. Wo sich noch eine Torfschicht im Untergrund fand, gestaltete sich der Renaturierungsprozess einfacher. Allerdings ist das Verfahren nicht unproblematisch. Beispielsweise entziehen an den Standorten heimisch gewordene Birken und Pfeifengräser dem Boden viel Wasser, so dass die eigentlichen Hochmoorpflanzen in ihrer Entwicklung gehemmt werden. Durch gezielte Pflegemaßnahmen bemüht sich der Moorschutz um Authentizität in einer künstlich erzeugten Wildnis. Schafe werden auf die Renaturierungsflächen getrieben und junge Birkensprößlinge in sogenannten Entkusselungsmaßnahmen aufwendig von Hand entfernt.

 

Ausblick: Wildwuchs statt Authentizitätsfetischismus

Heute gehört die Urlandschaft Hochmoor in Mitteleuropa der Vergangenheit an. Ehemals ausgedehnte Flächen sind in Grünland umgewandelt worden und stellen keine Behinderung für Verkehr und Landwirtschaft mehr dar. Wer ein urwüchsiges und weitgehend intaktes Regenmoor erleben möchte, muss nach Sibirien oder Kanada reisen. Nach Jahrhunderten intensiver Kultivierung versucht man heutigentags das Moor in unsere Landschaft zurückzuholen.

Eine Hundertachtzig-Grad-Wende sozusagen. Die Idee, mittels Renaturierungsverfahren eine vermeintliche Ursprünglichkeit wiederherzustellen, ist angesichts des stetigen Wandels der Landschaftsformen allerdings äußerst fragwürdig. Klima, Geologie, Flora und Fauna sind anhaltenden Veränderungen unterworfen. Das Hochmoor prägte, nachdem es frühere Vegetationsformen bedingt durch klimatische und geologische Transformationsprozesse verdrängt hatte, für Jahrtausende das Landschaftsbild. Dieser aus menschlicher Perspektive sehr lange Zeitraum ist in erdgeschichtlichen Dimensionen aber nur ein Wimpernschlag.

Trotzdem erscheint das Hochmoor vielen als Inbegriff des Urzeitlichen und Unberührten. Natur- und Heimatschützer legen sich mächtig ins Zeug, um den mutmaßlich natürlichen Urzustand durch Wiedervernässung und Entfernen moorfremder Vegetation wieder herzustellen. Das taten bezogen auf andere Ökosysteme übrigens bereits die Nationalsozialisten, indem sie die heimische Landschaft gemäß ihrer Ahnenerbe-Ideologie interpretierten und umgestalteten. Alles was an Gehölzen, Knollen und Stauden im Deutschen Wald als nachträglich eingeschleppt und damit als undeutsch identifiziert wurde, eliminierte man in schneidigen Säuberungsaktionen.

Heutige Bemühungen, das Landschaftsbild der vorangegangenen Jahrhunderte zu bewahren oder mit großem Aufwand wiederherzustellen, sind sicher nicht auf der Grundlage jener Nazipropaganda zu deuten. Heute stehen im Naturschutz der ökologische Eigenwert sowie die kulturgeschichtliche Bedeutung gegenüber rassenhygienischen Blut- und Bodenideologien im Vordergrund. Sieht man jedoch davon einmal ab, erweisen sich derartige Landschaftsrevivals trotzdem als abschließende Musealisierungen bedeutungslos gewordener Zustände. Vermeintlich authentisches botanisches und zoologisches Inventar wird in eine artifizielle Wildnis installiert. Anschließend werden bunte Informationstafeln und Aussichtstürme aufgestellt. Im besten Fall kommen dann einige Touristen und werfen Fünfzig-Cent-Münzen in die bereitgestellten Fernrohre.

Die Landwirtschaft ist aufgrund der gesellschaftlichen Tertiarisierung in Mitteleuropa vielerorts rückläufig. Und an nicht wenigen Standorten bilden sich Ruderalwildnisse aus. Das sind Vegetationsformen, die ohne menschliches Zutun auf postindustriellen Brachen entstehen, deren angestammte Flora zerstört und deren Bodengefüge verändert wurde. Dadurch bilden sich vollkommen neue Lebensmöglichkeiten gegenüber den ursprünglichen Verhältnissen aus. Wäre es nicht an der Zeit, wieder ein wenig Wildnis in unserer Mitte zuzulassen, indem wir die Natur, dort wo sie sich bereits Raum geschaffen hat, einfach gewähren lassen und ihre vielgestaltigen Wunder abwarten ohne sie allzu sehr mit unseren gescheiten Plänen zu behelligen? Der Wolf jedenfalls ist ohne menschliches Zutun zu uns zurückgekehrt.

Welf-Gerrit Otto

Hörtipp zur Lektüre: Morton Riis, Steam Machine Music, 2010 (www.mortonriis.dk)

Filmtipp zur Lektüre: Vakanz 2006, Freiraum Moor (Mola Bali, 2018)