Juniperus

„Mein Mutter, der mich schlacht‘,
mein Vater, der mich aß,
mein Schwester, der Marlenichen
sucht alle meine Benichen,
bind’t sie in ein seiden Tuch,
legt’s unter den Machandelbaum.
Kywitt, kywitt, wat vör’n schöön Vagel bün ik!“

[Jacob und Wilhelm Grimm, 1812]

Juniperus ist eine Pflanzengattung aus der Familie der Zypressengewächse, der weltweit etwa fünfzig bis siebzig Arten angehören. Ursprünglich waren in Mitteleuropa nur zwei Arten, nämlich der Gemeine Wacholder (Juniperus communis) sowie der Sadebaum (Juniperus sabina) beheimatet. Mittlerweile finden sich auch zahlreiche andere Wacholder-Arten in unseren Gärten und Parkanlagen. Bei allen Vertretern der Gattung handelt es sich um immergrüne Bäume und Sträucher mit hartem, aromatisch duftendem Holz und schuppen- bis nadelförmigen Blättern, die eng an den Zweigen anliegen. Der Gemeine Wacholder kann Wuchshöhen von bis zu achzehn Metern und Stammdurchmesser von einem knappen Meter erreichen. Zumeist bleibt er allerdings deutlich kleiner. Sehr häufig bildet er nicht nur einen, sondern gleich mehrere Stämme aus. Lebensalter von sechshundert Jahren und mehr sind keine Seltenheit. Im Frühling beginnen die Wacholderbeeren zu wachsen, die botanisch betrachtet genaugenommen keine Beeren, sondern Zapfen sind. Bis zu drei Jahre reifen die Früchte am Baum und sind daher auch im tiefsten Winter in der freien Natur verfügbar. Ein bis drei Samen befinden sich in jeder von ihnen. Vögel verbreiten die Samen durch Fraß und Ausscheidung und stehen daher, ganz so wie im oben zitierten Märchen,[1] in enger Beziehung zu dieser Pflanze. Wacholder gedeiht insbesondere auf trockenen und kalkhaltigen Böden und ist sehr gut an regenarme Zeiten angepasst. Da die Pflanze sehr konkurrenzschwach ist, wird sie von der übrigen Vegetation häufig in steinige und sandige Gebiete abgedrängt. In den alten Kulturlandschaften der Lüneburger Heide und Schwäbischen Alb konnte sich der Wacholder deshalb so gut ausbreiten, da er im Gegensatz zu anderen Gewächsen vom Vieh nicht verbissen wird. Insofern kann er durchaus als Kulturfolger betrachtet werden.

Mythos

Denkt man an den Wacholder, kommen einem vielleicht als erstes die Heimatfilme der neunzehnhundertsechziger Jahre in den Sinn, beispielsweise „Wenn die Heide blüht“ von Hans Deppe. Im Verbund mit duftendem Heidekraut, kauzigen Schäfern, niedlichen Heidschnucken und gut bestückten Landfrauen im heiratsfähigen Alter liefert seine unverwechselbare himmelwärts weisende Erscheinung auf weiter Ebene die geeignete Kulisse für bukolische Szenen in einer heilen beständigen Welt fern der Schrecknisse der erlebten Weltkriege. Noch heute werden die romantisierenden Bilder in den Medien reproduziert, etwa in der Touristikbranche. Doch der Sehnsuchtsort Heide findet sich in unserer Zeit auch gartenarchitektonisch umgesetzt im dörflichen und urbanen Raum. Und zwar dort, wo man ihn zunächst nicht vermuten würde. Und das hat möglicherweise ebenfalls mit dem Bedürfnis nach Frieden und Geborgenheit zu tun, das die Menschen hierzulande mit den Bildern von Heide und Wacholder verbinden.

Beim Betreten eines mitteleuropäischen Friedhofes sehen wir eine parzellierte Heidelandschaft vor uns. Grabstätten sind der Ausdruck davon, wie sich eine Kultur das ideale Jenseits denkt. Südeuropäische Gräber beispielsweise haben durch das häufig anzutreffende Gestaltungsmerkmal des Kolumbariums, so werden die übereinander angeordneten Nischen zur Feuerbestattung bezeichnet, ein eher urban anmutendes Erscheinungsbild. Hierzulande zeigt sich der Hang zur Heide- und Waldromantik der deutschen Seele bereits in der Gestaltung der Friedhöfe. Bei uns scheint die Heidelandschaft und mit ihr der immergrüne Wacholder die irdische Version des Totenreichs zu sein. Arnold Böcklins Bildmotiv „Die Toteninsel“, das auf insgesamt fünf Gemälden in den Jahren zwischen 1880 und 1886 von dem Künstler umgesetzt wurde, zeugt davon.[2] Denn der Wacholder ist dem Verständnis unserer Kultur nach eine Pflanze, die gleichsam historisch gewachsene Bilder von Tod und Wiedergeburt transportiert. Deshalb ist er ein typisches Friedhofgewächs. Sein immergrünes Kleid macht den Wacholder, ebenso wie andere wintergrüne Gewächse, beispielsweise Tanne, Fichte oder Eibe, zu einem Symbol ausdauernder Lebenskraft, Wiedergeburt und ewigen Lebens.

Unseren Vorfahren galt der Wacholder, oder auch Machandel, wie er in Märchen und Volksmund oft genannt wurde, als Hüter der Schwelle zwischen Leben und Tod. Im Gedicht „Der Traum“ des Heidepoppoeten Hermann Löns etwa befragt ein Mädchen den Baum nach dem Verbleib ihres Geliebten: „Machandel, lieber Machandelbaum, / In Trauern komm ich her, / Ich träumte einen bösen Traum, / Das Herze ist mir schwer. / […] Und wenn er mir die Treue brach, / So will ich schlafen bei dir, / Wir schlafen bis zum jüngsten Tag, / Deinen Schatten über mir.“[3] Volksetymologisch wird der Name des Wacholders häufig mit „erwachen“ oder „erwecken“ in Zusammenhang gebracht.[4] Und so glaubte man, dass er dereinst die Verstorbenen in seiner Nähe zu neuem Leben erwecken würde. Für diese alte Auffassung steht auch das Märchen „Von dem Machandelboom“, das der Maler Philipp Otto Runge aus mündlicher Überlieferung niedergeschrieben und zur Grimmschen Märchensammlung beigesteuert hat:

Eine Frau schält unter einem Wacholderbaum einen Apfel und schneidet sich dabei unversehens in die Finger. Als das rote Blut zur Erde tropft, wünscht sich die Frau sehnlichst ein Kind, so weiß wie Schnee und so rot wie Blut. Bald darauf wird sie schwanger, stirbt aber im Kindbett bei der Geburt ihres Sohnes und wird unter dem Baum begraben. Der Vater heiratet erneut, unglücklicherweise eine böse und selbstsüchtige Frau, die ihm zwar eine freundliche Tochter schenkt, den erstgeborenen Sohn aber aus tiefster Seele hasst. Hinterrücks tötet die Stiefmutter den Jungen und kocht aus ihm eine Suppe, die sie ihrem Gatten vorsetzt. Dem Mann, der nichts Böses ahnt, schmeckt die Suppe zwar, allerdings wird er bei dem Mahl sehr traurig. Denn seine Frau berichtet ihm nun, der Sohn sei ohne sich zu verabschieden von zuhause fortgezogen. Währenddessen bestattet das Mädchen die Knochen ihres Halbbruders weinend unter dem Wacholder. Mit einem Mal bewegen sich die Zweige des Baumes wie Hände. Aus feurigem Nebel steigt ein schöner Vogel zum Himmel empor und singt das eingangs zitierte Lied. Schließlich wird die böse Stiefmutter mittels eines niederfallenden Mühlsteins getötet und der Sohn zu neuem Leben erweckt.[5]

Unseren Vorfahren galt der Wacholder als heilig. Nach alter Überlieferung soll man vor ihm ebenso wie vor dem Holunder grüßend den Hut abziehen.[6] Dass stets mehrere Generationen reifender Früchte im Geäst hängen und der Baum auch an extrem trockenen und kargen Standorten gedeiht – dort, wo es keine andere Holzart mehr aushält, etwa in der sandigen Heide oder dem steinigen Hochgebirge – verstärkt den symbolischen Bezug zur Überwindung des Todes und zum ewigen Leben noch. Seine Anpassungs- und Leidensfähigkeit sowie seine symbolische Nähe zu Tod und Wiedergeburt macht die Zypresse des Nordens, wie der Wacholder auch genannt wird, zu einer typischen Pflanze des Mittwinters.

Die Ernte der Wacholderbeeren gestaltet sich aufgrund der stacheligen Zweige allerdings ein wenig unangenehm. Wie auch andere wehrhafte Pflanzen, etwa die im Frühlingsteil beschriebene Brennnessel,[7] wurde auch der Wacholder früher als Apotropaion, als magisches Mittel gegen unheilvolle Kräfte, eingesetzt. Eine Besonderheit bestand in seiner Nutzung als Räucherwerk.[8] Äste und Holz des Wacholders wurden von unseren Vorfahren bei Räucherritualen verwendet. Insbesondere während der Rauhnächte, in denen das Ungeheuerliche zeitweise die Ordnungssysteme der Welt aus den Angeln hebt, räucherten die Leute die aromatische Pflanze, um sich ihres Schutzes zu versichern. War der Beifuß in unserer Region das Rauchkraut der Sommersonnenwende, wurde Wacholder von unseren Ahnen zur rituellen Reinigung vor allem an Mittwinter entzündet. Ein Grund dafür mag in seiner großen Bedeutung für die Volksmedizin zu finden sein.

Zur Abwehr von Krankheiten, Hexen, Dämonen und anderem Unheil verwandte man den Wacholder in vielfältiger Weise. In Haus und Hof wurde er zum Schutze von Mensch und Vieh an unterschiedlichen Orten deponiert. Mitunter steckte man sich Wacholderzweige an den Hut, um gegen unheilvolle Einflüsse gefeit zu sein. In einer schwäbischen Sage hält sich ein kleines Mädchen, das von einer fiesen Schlange bedrängt wird, das Tier vom Leib, indem es dieses leicht mit einem Wacholderästchen tuschiert. Schon krampft der garstige Wurm in tiefer Abscheu und macht sich eiligst aus dem Staub. Schön ist auch die Überlieferung derzufolge man beim Nichtgelingen der manuellen Butterherstellung, dem Butterfaß Frauenkleider anziehen und es mit einem Wacholderstecken schlagen soll. Die verantwortliche Hexe würde dann am ganzen Leib blaue Flecken bekommen.[9]

Dass unsere germanischen Ahnen das Holz des Baumes bei der Leichenverbrennung einsetzten, mag ebenfalls als apotropäische Handlung gewertet werden. Außerdem gilt der Strauch als Wohnstatt unzähliger Geister und Naturwesen, die verborgen im dichten Geäst oder unter dem Wurzelwerk hausen und die Geschicke der Menschen mitbestimmen.[10] Man erzählte sich etwa, dass der Wacholder am Eingang der Wohnungen von Zwergen und Unterirdischen stünde, die unbeschreiblich wertvolle Schätze horteten. Wenn in der warmen Jahreszeit die männlichen Wacholderbäume ihren goldenen Blütenstaub über das Land streuten, sprach man vom „Heidesegen“ oder „Gnadenregen“.

Kost

Der Wacholder ist eine vortreffliche Arznei- und Gewürzpflanze, sollte allerdings stets mit Vorsicht genossen werden. Da sie neben bekömmlichen ätherischen Ölen und anderen heilsamen Wirkstoffen auch giftige Bestandteile enthält, schädigt die Pflanze bei unsachgemäßer Verwendung und bei Überdosierung die Nieren. Während der Schwangerschaft ist vom Verzehr daher dringend abzuraten. Auch sollten ausschließlich die Früchte des Gemeinen Wacholders (Juniperus communis) verwendet werden. Einige Wacholderarten, beispielsweise der auch in unserer Region beheimatete Sadebaum (Juniperus sabina), können die Freude am Genuss durch ihre extreme Giftigkeit in nicht unerheblichem Maße schmälern.

Die medizinisch wirksamen Inhaltsstoffe des Wacholders helfen, ihre fachgerechte Anwendung und Dosierung vorausgesetzt, etwa bei Verdauungsproblemen und rheumatischen Leiden. Schon aus dem Mittelalter sind Salben gegen Gelenkschmerzen überliefert, die Wacholderbeeren als Zutat enthalten. Da die Früchte mehrere Jahre an den Zweigen ausreifen und in jedem Frühjahr neue nachwachsen, können reife Exemplare jederzeit, sogar im Winter, geerntet werden. Verwendet werden die frischen oder getrockneten Zapfen etwa als Gewürz im Sauerkraut. Auch Fleischgerichte lassen sich mit ihnen geschmacklich verfeinern.

Vor ihrer unmittelbar bevorstehenden Verwendung sollte man die Früchte unbedingt zerdrücken, um so ihr Aroma freizusetzen. Besonders beliebt nach reichhaltigem und schwerem Essen ist ein selbstgemachter Wacholderschnaps. Dazu besorgt man sich einen Liter qualitativ hochwertigen Kornbrand, einen kleinen Wacholderzweig, eine Handvoll dunkle Wacholderbeeren sowie eine lichtundurchlässige Eineinhalb-Liter-Flasche mit Bügelverschluss. Beeren und Zweig werden für sechs Wochen im Hochprozentigen eingelegt. Anschließend die Pflanzenteile entfernen, den fertigen Wacholderschnaps in die etikettierte Bügelflasche abfüllen und nach einem gemeinsamen Abendessen guten Freunden kredenzen. Außerdem lassen sich aus den Wurzelknollen formschöne Pfeifenköpfe herstellen, die nach Speis und Trank im Freundeskreis ebenfalls zum Einsatz kommen können.

Welf-Gerrit Otto

 

Anmerkungen

[1] KHM 47 (Von dem Machandelboom). Grimm 2015: 236-246.

[2] Die himmelwärts weisenden Bäume auf den Gemälden werden oft als Zypressen gedeutet. Es könnte sich aber genauso gut um Wacholder handeln.

[3] Löns 1924, I: 307.

[4] Vgl. Laudert 2004: 196; Bächtold-Stäubli 2008, IX: 4.

[5] KHM 47. Grimm 2015: 236-246. Die Geschichte erinnert an den Mythos von Tod und Wiedergeburt der ägyptischen Göttergestalt Osiris.

[6] Vgl. Bächtold-Stäubli 2008, IX: 1.

[7]Vgl.  „Vom Eise befreit…“ Frühlingsflora im Spiegel von Mythologie und Volksglaube. In: Schleswig-Holstein. Die Kulturzeitschrift für den Norden. 02/2018. S. 24-35.

[8] Vgl. Rätsch 2009: 109ff.

[9] Vgl. Bächtold-Stäubli 2008, IX, 6.

[10] Vgl. Bächtold-Stäubli 2008, IX: 3.

Verwendete Literatur