Die Nixe im Teich (KHM 181):

Ein Zaubermärchen der Brüder Grimm über die Unergründlichkeit des Seins und die Macht der Liebe

Die Nixe im Teich (Welf-G. Otto, 2017)

Es war einmal ein Müller, der führte mit seiner Frau ein vergnügtes Leben. Sie hatten Geld und Gut, und ihr Wohlstand nahm von Jahr zu Jahr noch zu. Aber Unglück kommt über Nacht: wie ihr Reichthum gewachsen war, so schwand er von Jahr zu Jahr wieder hin, und zuletzt konnte der Müller kaum noch die Mühle, in der er saß, sein Eigenthum nennen. Er war voll Kummer, und wenn er sich nach der Arbeit des Tags nieder legte, so fand er keine Ruhe, sondern wälzte sich voll Sorgen in seinem Bett.

Eines Morgens stand er schon vor Tagesanbruch auf, gieng hinaus ins Freie und dachte es sollte ihm leichter ums Herz werden. Als er über dem Mühldamm dahin schritt, brach eben der erste Sonnenstrahl hervor, und er hörte in dem Weiher etwas rauschen. Er wendete sich um und erblickte ein schönes Weib, das sich langsam aus dem Wasser erhob. Ihre langen Haare, die sie über den Schultern mit ihren zarten Händen gefaßt hatte, flossen an beiden Seiten herab und bedeckten ihren weißen Leib. Er sah wohl daß es die Nixe des Teichs war und wußte vor Furcht nicht ob er davon gehen oder stehen bleiben sollte. Aber die Nixe ließ ihre sanfte Stimme hören, nannte ihn bei Namen und fragte warum er so traurig wäre. Der Müller war anfangs verstummt, als er sie aber so freundlich sprechen hörte, faßte er sich ein Herz und erzählte ihr daß er sonst in Glück und Reichthum gelebt hätte, aber jetzt so arm wäre, daß er sich nicht zu rathen wüßte. „Sei ruhig,“ antwortete die Nixe, „ich will dich reicher und glücklicher machen als du je gewesen bist, nur mußt du mir versprechen daß du mir geben willst was eben in deinem Hause jung geworden ist.“ „Was kann das anders sein,“ dachte der Müller, „als ein junger Hund oder ein junges Kätzchen?“ und sagte ihr zu was sie verlangte. Die Nixe stieg wieder in das Wasser hinab, und er eilte getröstet und gutes Muthes nach seiner Mühle.

Noch hatte er sie nicht erreicht, da trat die Magd aus der Hausthüre und rief ihm zu er sollte sich freuen, seine Frau hätte ihm einen kleinen Knaben geboren. Der Müller stand wie vom Blitz gerührt, er sah wohl daß die tückische Nixe das gewußt und ihn betrogen hatte. Mit gesenktem Haupt trat er zu dem Bett seiner Frau, und als sie ihn fragte „warum freust du dich nicht über den schönen Knaben?“ so erzählte er ihr was ihm begegnet war und was für ein Versprechen er der Nixe gegeben hatte. „Was hilft mir Glück und Reichthum,“ fügte er hinzu, „wenn ich mein Kind verlieren soll? aber was kann ich thun?“ Auch die Verwandten, die herbeigekommen waren, Glück zu wünschen, wußten keinen Rath.

Indessen kehrte das Glück in das Haus des Müllers wieder ein. Was er unternahm gelang, es war als ob Kisten und Kasten von selbst sich füllten und das Geld im Schrank über Nacht sich mehrte. Es dauerte nicht lange, so war sein Reichthum größer als je zuvor. Aber er konnte sich nicht ungestört darüber freuen: die Zusage, die er der Nixe gethan hatte, quälte sein Herz. So oft er an dem Teich vorbei kam, fürchtete er sie möchte auftauchen und ihn an seine Schuld mahnen. Den Knaben selbst ließ er nicht in die Nähe des Wassers: „hüte dich,“ sagte er zu ihm, „wenn du das Wasser berührst, so kommt eine Hand heraus, hascht dich und zieht dich hinab.“ Doch als Jahr auf Jahr vergieng, und die Nixe sich nicht wieder zeigte, so fieng der Müller an sich zu beruhigen.

Der Knabe wuchs zum Jüngling heran und kam bei einem Jäger in die Lehre. Als er ausgelernt hatte und ein tüchtiger Jäger geworden war, nahm ihn der Herr des Dorfes in seine Dienste. In dem Dorf war ein schönes und treues Mädchen, das gefiel dem Jäger, und als sein Herr das bemerkte, schenkte er ihm ein kleines Haus; die beiden hielten Hochzeit, lebten ruhig und glücklich und liebten sich von Herzen.

Einsmals verfolgte der Jäger ein Reh. Als das Thier aus dem Wald in das freie Feld ausbog, setzte er ihm nach und streckte es endlich mit einem Schuß nieder. Er bemerkte nicht daß er sich in der Nähe des gefährlichen Weihers befand, und gieng, nachdem er das Thier ausgeweidet hatte, zu dem Wasser, um seine mit Blut befleckten Hände zu waschen. Kaum aber hatte er sie hinein getaucht, als die Nixe emporstieg, lachend mit ihren nassen Armen ihn umschlang und so schnell hinabzog, daß die Wellen über ihm zusammenschlugen.

Als es Abend war und der Jäger nicht nach Haus kam, so gerieth seine Frau in Angst. Sie gieng aus ihn zu suchen, und da er ihr oft erzählt hatte daß er sich vor den Nachstellungen der Nixe in Acht nehmen müßte und nicht in die Nähe des Weihers sich wagen dürfte, so ahnte sie schon was geschehen war. Sie eilte zu dem Wasser, und als sie am Ufer seine Jägertasche liegen fand, da konnte sie nicht länger an dem Unglück zweifeln. Wehklagend und händeringend rief sie ihren Liebsten mit Namen, aber vergeblich: sie eilte hinüber auf die andere Seite des Weihers, und rief ihn aufs neue: sie schalt die Nixe mit harten Worten, aber keine Antwort erfolgte. Der Spiegel des Wassers blieb ruhig, nur das halbe Gesicht des Mondes blickte unbeweglich zu ihr herauf.

Die arme Frau verließ den Teich nicht. Mit schnellen Schritten, ohne Rast und Ruhe, umkreißte sie ihn immer von neuem, manchmal still, manchmal einen heftigen Schrei ausstoßend, manchmal in leisem Wimmern. Endlich waren ihre Kräfte zu Ende: sie sank zur Erde nieder und verfiel in einen tiefen Schlaf. Bald überkam sie ein Traum.

Sie stieg zwischen großen Felsblöcken angstvoll aufwärts; Dornen und Ranken hakten sich an ihre Füße, der Regen schlug ihr ins Gesicht und der Wind zauste ihr langes Haar. Als sie die Anhöhe erreicht hatte, bot sich ein ganz anderer Anblick dar. Der Himmel war blau, die Luft mild, der Boden senkte sich sanft hinab und auf einer grünen, bunt beblümten Wiese stand eine reinliche Hütte. Sie gieng darauf zu und öffnete die Thüre, da saß eine Alte mit weißen Haaren, die ihr freundlich winkte. In dem Augenblick erwachte die arme Frau. Der Tag war schon angebrochen, und sie entschloß sich gleich dem Traum Folge zu leisten. Sie stieg mühsam den Berg hinauf, und es war alles so, wie sie es in der Nacht gesehen hatte. Die Alte empfieng sie freundlich und zeigte ihr einen Stuhl, auf den sie sich setzen sollte. „Du mußt ein Unglück erlebt haben,“ sagte sie, „weil du meine einsame Hütte aufsuchst.“ Die Frau erzählte ihr unter Thränen was ihr begegnet war. „Tröste dich,“ sagte die Alte, „ich will dir helfen: da hast du einen goldenen Kamm. Harre bis der Vollmond aufgestiegen ist, dann geh zu dem Weiher, setze dich am Rand nieder und strähle dein langes schwarzes Haar mit diesem Kamm. Wenn du aber fertig bist, so lege ihn am Ufer nieder, und du wirst sehen was geschieht.“

Die Frau kehrte zurück, aber die Zeit bis zum Vollmond verstrich ihr langsam. Endlich erschien die leuchtende Scheibe am Himmel, da gieng sie hinaus an den Weiher, setzte sich nieder und kämmte ihre langen schwarzen Haare mit dem goldenen Kamm, und als sie fertig war, legte sie ihn an den Rand des Wassers nieder. Nicht lange, so brauste es aus der Tiefe, eine Welle erhob sich, rollte an das Ufer und führte den Kamm mit sich fort. Es dauerte nicht länger als der Kamm nöthig hatte, auf den Grund zu sinken, so theilte sich der Wasserspiegel und der Kopf des Jägers stieg in die Höhe. Er sprach nicht, schaute aber seine Frau mit traurigen Blicken an. In demselben Augenblick kam eine zweite Welle herangerauscht und bedeckte das Haupt des Mannes. Alles war verschwunden, der Weiher lag so ruhig wie zuvor und nur das Gesicht des Vollmondes glänzte darauf.

Trostlos kehrte die Frau zurück, doch der Traum zeigte ihr die Hütte der Alten. Abermals machte sie sich am nächsten Morgen auf den Weg und klagte der weisen Frau ihr Leid. Die Alte gab ihr eine goldene Flöte, und sprach „harre bis der Vollmond wieder kommt, dann nimm diese Flöte, setze dich an das Ufer, blas ein schönes Lied darauf, und wenn du damit fertig bist, so lege sie auf den Sand; du wirst sehen was geschieht.“

Die Frau that wie die Alte gesagt hatte. Kaum lag die Flöte auf dem Sand, so brauste es aus der Tiefe: eine Welle erhob sich, zog heran, und führte die Flöte mit sich fort. Bald darauf theilte sich das Wasser und nicht bloß der Kopf auch der Mann bis zur Hälfte des Leibes stieg hervor. Er breitete voll Verlangen seine Arme nach ihr aus, aber eine zweite Welle rauschte heran, bedeckte ihn und zog ihn wieder hinab.

„Ach, was hilft es mir,“ sagte die Unglückliche, „daß ich meinen Liebsten nur erblicke, um ihn wieder zu verlieren.“ Der Gram erfüllte aufs neue ihr Herz, aber der Traum führte sie zum drittenmal in das Haus der Alten. Sie machte sich auf den Weg, und die weise Frau gab ihr ein goldenes Spinnrad, tröstete sie und sprach „es ist noch nicht alles vollbracht, harre bis der Vollmond kommt, dann nimm das Spinnrad, setze dich an das Ufer und spinn die Spuhle voll, und wenn du fertig bist, so stelle das Spinnrad nahe an das Wasser und du wirst sehen was geschieht.“

Die Frau befolgte alles genau. Sobald der Vollmond sich zeigte, trug sie das goldene Spinnrad an das Ufer und spann emsig bis der Flachs zu Ende und die Spuhle mit dem Faden ganz angefüllt war. Kaum aber stand das Rad am Ufer, so brauste es noch heftiger als sonst in der Tiefe des Wassers, eine mächtige Welle eilte herbei und trug das Rad mit sich fort. Alsbald stieg mit einem Wasserstrahl der Kopf und der ganze Leib des Mannes in die Höhe. Schnell sprang er ans Ufer, faßte seine Frau an der Hand und entfloh. Aber kaum hatten sie sich eine kleine Strecke entfernt, so erhob sich mit entsetzlichem Brausen der ganze Weiher und strömte mit reißender Gewalt in das weite Feld hinein. Schon sahen die Fliehenden ihren Tod vor Augen, da rief die Frau in ihrer Angst die Hilfe der Alten an, und in dem Augenblick waren sie verwandelt, sie in eine Kröte, er in einen Frosch. Die Flut, die sie erreicht hatte, konnte sie nicht tödten, aber sie riß sie beide von einander und führte sie weit weg.

Als das Wasser sich verlaufen hatte und beide wieder den trocknen Boden berührten, so kam ihre menschliche Gestalt zurück. Aber keiner wußte wo das andere geblieben war; sie befanden sich unter fremden Menschen, die ihre Heimat nicht kannten. Hohe Berge und tiefe Thäler lagen zwischen ihnen. Um sich das Leben zu erhalten mußten beide die Schafe hüten. Sie trieben lange Jahre ihre Herden durch Feld und Wald und waren voll Trauer und Sehnsucht.

Als wieder einmal der Frühling aus der Erde hervorgebrochen war, zogen beide an einem Tag mit ihren Herden aus und der Zufall wollte daß sie einander entgegen zogen. Er erblickte an einem fernen Bergesabhang eine Herde und trieb seine Schafe nach der Gegend hin. Sie kamen in einem Thal zusammen, aber sie erkannten sich nicht, doch freuten sie sich daß sie nicht mehr so einsam waren. Von nun an trieben sie jeden Tag ihre Herde neben einander: sie sprachen nicht viel, aber sie fühlten sich getröstet. Eines Abends, als der Vollmond am Himmel schien und die Schafe schon ruhten, holte der Schäfer die Flöte aus seiner Tasche und blies ein schönes aber trauriges Lied. Als er fertig war, bemerkte er daß die Schäferin bitterlich weinte. „Warum weinst du?“ fragte er. „Ach,“ antwortete sie, „so schien auch der Vollmond als ich zum letztenmal dieses Lied auf der Flöte blies und das Haupt meines Liebsten aus dem Wasser hervorkam.“ Er sah sie an und es war ihm als fiele eine Decke von den Augen, er erkannte seine liebste Frau: und als sie ihn anschaute und der Mond auf sein Gesicht schien, erkannte sie ihn auch. Sie umarmten und küßten sich, und ob sie glückselig waren braucht keiner zu fragen.

[Aus: Grimm, Jacob und Wilhelm (1857): Kinder und Hausmärchen gesammelt durch die Brüder Grimm. Zweiter Band. Große Ausgabe. Siebente Auflage. Göttingen: Verlag der Dieterichschen Buchhandlung. S. 377-383]

Spiegel im Spiegel (Welf-G. Otto, 2016)

Hintergründe und Deutungen des Märchens

„Water water see the water flow / Glancing dancing see the water flow / Oh, wizard of changes water water water / Dark or silvery mother of life / Water water holy mystery heavens daughter / God made a song when the world was new / Waters laughter sings it is true / Oh, wizard of changes, teach me the lesson of flowing“

[Water Song, The Incredible String Band, 1968]

Menschenraubender Wassergeist, Erlösung und Flucht aus unergründlichen Tiefen, Trennung und Wiedervereinigung der Liebenden in den Weiten der Welt – „Die Nixe im Teich“ (KHM 181) gehört trotz seiner relativen Unbekanntheit wohl zu den magischsten Märchen der Grimmschen Sammlung. Auch spielt das fortgeschrittene Lebensalter in Person einer mysteriösen Helferin eine nicht unbedeutende Rolle.

Die Erzählung erscheint bei den Grimms erstmals 1843 im zweiten Band der fünften Auflage der Märchensammlung.[1] Bis zur Ausgabe von letzter Hand 1857 kommt es zu keinen wesentlichen Veränderungen.[2] Wie im Fall vieler anderer Märchen, die Jacob und Wilhelm Grimm im Laufe ihrer Leben zusammengetragen haben, geht auch die Nixe im Teich auf keine mündliche Überlieferung zurück.[3] Wilhelm Grimm bediente sich aus einer schriftlichen Quelle, nämlich aus der „Zeitschrift für deutsches Alterthum und deutsche Literatur“ des Philologen und Germanisten Moriz Haupt (1808-1874).[4] Das Zaubermärchen stammt in dieser Fassung wohl aus der Oberlausitz. Bis auf einige romantisierende Ausschmückungen nahm Grimm keine Änderungen am Text vor.

Hans-Jörg Uther bemerkt zu Titel und Inhalt, dass Naturgeister in der Literaturgattung des Märchens gemeinhin kaum eine Rolle spielen würden. Nixen, Elfen und Kobolde gehörten vielmehr zum Personal der Sage.[5] Trotzdem hat der betörende Wassergeist, der wie viele andere seiner Zunft nach der Vereinigung mit einem Menschen trachtet,[6] Eingang in die Märchensammlung gefunden. Dabei sind die Variationen der Nixenerzählung von alters her Legion. Das Nibelungenlied weiß von ihnen zu berichten. Hans Christian Andersen bediente sich bei seinem Kunstmärchen „Die kleine Meerjungfrau“ von 1837 bei der mittelalterlichen Sagengestalt Undine. Die von Clemens von Brentano 1801 erfundene Loreley war bereits Mitte des 19. Jahrhunderts so populär, dass sie seitdem fast jeder fälschlicherweise für eine uralte Überlieferung hält. Fischschwänzige Rusalken geistern unheilvoll durch slawische Volkserzählungen. Und bei Homer sind es deren südliche Geschwister, die Sirenen, die Odysseus ins Verderben zu locken trachten.

Weder See noch Land (Welf-G. Otto, um 2010)

Gemeinsam ist all diesen Wesen des nassen Elements, dass sie sich des Menschens bemächtigen wollen, was sie von anderen, durchaus wohlwollenden Wassergeistern des Volksglaubens unterscheidet.[7] Theophrastus von Hohenheim, besser bekannt unter seinem Pseudonym Paracelsus, sieht im 16. Jahrhundert den Grund für dieses Bestreben in einem Mangel, den die Wasserleute durch Menschenraub auszugleichen trachteten. Denn sie besäßen zwar Körper und Geist, nicht aber eine unsterbliche Seele:

„Also do auch die ding vor unsere Augen genugsam gestellt werden: Als nemlich von Wasserleuten | die kommen auß ihren Wassern herauß zu uns | lassen sich kennen | und handeln und wandeln mit uns […]. Nun aber Menschen sinds | aber allein im Thier | ohn die Seel.“[8] Nur durch eine dauerhafte Liebesbeziehung zu einem Menschenmann könnten diese Elementargeister eine Seele empfangen und dadurch erlöst werden: „Zu gleicher Weise, als ein Heide, der um die Taufe bittet und buhlt, auf daß er seine Seele erlange, und lebendig werde in Christo: also stellen sie nach solcher Liebe gegen die Menschen.“[9]

Um Menschen buhlende Wassernixen – hierzulande waren es beispielsweise Johann Karl August Musäus (1735-1784) und Johann Christoph Matthias Reinecke (1768-1818), die sich vor den Grimms literarisch mit diesem Thema auseinandersetzten und verschiedene Fassungen der Nixenerzählung schriftlich niederlegten. Auch Ludwig Bechstein (1801-1860) nahm sich des Märchens unter Verwendung der Wilhelm Grimm vorliegenden Quelle an, wobei er sich allerdings enger an die Vorlage von Moriz Haupt hielt.[10]. Erzählt wird von einem Menschenraub und den Anstrengungen, die eine Frau unternimmt, um ihren Geliebten aus den Fängen einer bösen Macht zu befreien. Dabei kommt ihr eine geheimnisvolle Alte zur Hilfe. Zuerst erscheint sie der jungen Frau nur im Traum. In höchster Not lässt sich die Greisin dann leibhaftig in einer Hütte im tiefen Bergwald von der Verzweifelten finden. Dort gibt sie der Frau drei magische Accessoires mit auf den Weg – Kamm, Flöte und Spinnrad. Diese helfen schließlich bei der Befreiung des Mannes. Später auf der Flucht vor der im wahrsten Sinne des Wortes vor Wut schäumenden Nixe rettet die Alte das Paar ein weiteres Mal durch kurzzeitige Verwandlung in Amphibien vor dem Ertrinken.

Anderswelt (Welf-G. Otto, 2017)

Tiefenpsychologische Deutungen der Nixe im Teich gibt es wie bei jedem anderen Grimmschen Märchen zuhauf. Die Formelhaftigkeit und Flächenhaftigkeit machen die Erzählgattung[11] zu einer Spielwiese für Deutungsversuche, bei denen im schlimmsten Fall und nach küchenpsychologischen Spielregeln gleichsam jeder Hahn, der auf dem Misthaufen kräht, als germanische Gottheit – wahlweise mit oralem, analem oder phallischem Charakter – interpretiert wird. Im besten Fall bieten psychologische Ansätze allerdings auch sehr bemerkenswerte, vielschichtige und wirklich erhellende Ausdeutungen des Erzählstoffs und seiner einzelnen Motive.

Hedwig von Beit etwa bezieht sich bei ihrer Auslegung des Märchens insbesondere auf das Motiv des Kindsopfers und sieht Parallelen zum biblischen Jiftach, der aufgrund eines Gelübdes Gott seine eigene Tochter geopfert haben soll.[12] Für die Erzählforscherin ist das Handeln des Müllers in einem ängstlichen Beharren auf das Alte zuungunsten des Neuen gegründet.[13] Verena Kast, Psychologin und wie Beit ebenfalls Anhängerin der Jungschen Lehre von den Archetypen, hebt auf die erotische Faszination ab, die der Müller für die attraktive Nixe hege. Bei Kast geht es gleich ans Eingemachte: Mutterkomplex, Phallussymbole, Mondphasen der Fruchtbarkeit. Dazu das gewohnte numinose Muttergöttinenpersonal der Tiefenpsychologie: Artemis, Diana, Freya. Das volle Programm sozusagen.[14]

Interessieren soll im Kontext unserer Betrachtung aber vor allem die Alte, die dem in Bedrängnis geratenen Paar seine offenkundig übernatürliche Unterstützung angedeihen lässt. Die Helferin, über deren physische Erscheinung es bei den Grimms nur heißt, sie sei alt und habe weißes Haar, verfügt über zauberkundiges Wissen und magische Fähigkeiten. Ob sie ein Mensch oder ein den Menschen wohlgesonnener Naturgeist ist, bleibt allerdings unklar. Fraglos ist die Alte aber selbstlose Gegenspielerin der eigennützigen und besitzergreifenden Nixe, die ihre Magie einzig für ihre selbstsüchtigen Zwecke, nämlich den Männerraub in Stellung bringt.

Als Antagonist der bösen Hexe, des bösen Hexers taucht der Typus der helfenden Alten in den Grimmschen Märchen an unterschiedlichen Stellen in Erscheinung.[15] Doch auch ohne konkreten Widersacher spielt die Figur eine bedeutende Rolle in vielen dieser Erzählungen. Sie gibt den Märchenhelden Orientierung, wirksame Ratschläge und mitunter das geeignete Werkzeug für den Erfolg. Dies aber kann nur geschehen, weil die Figur selbst über den nötigen Durchblick und Überblick, letztendlich also über das verfügt, was man landläufig und in Bezug auf die Lebensbewältigung als „Weisheit“ bezeichnet.

Unland (Welf-G. Otto, 2006)

Die Weisheit des Alters aber ist sprichwörtlich. Auch heute findet sich die Verschränkung beider Begriffe in zahlreichen populären Kontexten. Die Theologin und Psychologin Ingrid Riedel hat beispielsweise 2016 einen Altersratgeber veröffentlicht, in dem sie sich des Archetyps der weisen Frau in Märchen, Träumen und in der Religionsgeschichte annimmt.[16] Auch das Grimmsche Nixenmärchen taucht darin auf. Im Werbetext des Verlags heißt es:

„Wer alt ist, ist nicht automatisch weise. Doch in uns allen gibt es das archetypische Bild des alten weisen Menschen, das sowohl unser Erleben von Altsein als auch unsere Beziehung zu älteren Frauen und Männern prägt. Ingrid Riedel betrachtet in diesem Buch die Erscheinungsformen des Archetyps der alten Weisen in den Grimm’schen Märchen ‚Die Gänsehirtin am Brunnen‘ und ‚Die Nixe im Teich‘ sowie in Träumen, in der Religionsgeschichte und im Lebensalltag heutiger Frauen.“[17]

Am Beginn dieser Interpretation steht Carl Gustav Jung. Für den Altmeister der analytischen Psychologie tritt der „Archetypus des Sinnes“ sehr häufig als alter Weiser in Erscheinung, als Lehrer, Zauberer, Medizinmann. Als eine Gestalt, die das Chaos und die Finsternisse der Existenz mit Licht erfüllt und Orientierung gibt. Gleich einem Alchimisten folgt er forschend dem Pfad der Natur und schaut bald dort verborgene Strukturen wo vormals nur Wirrnis war.[18] Im Märchen taucht dieser Archetypus Jung zufolge dann auf, wenn die Situation brenzlig werde und rasche Hilfe vonnöten sei:

„Öfters stellt der Alte in den Märchen dem Helden oder der Heldin die Frage nach dem Wer, Warum, Woher und Wohin, um damit die Selbstbesinnung und Sammlung der moralischen Kräfte in die Wege zu leiten und noch häufiger verleiht er die nötigen Zaubermittel, das heißt die unerwartete und unwahrscheinliche Erfolgskraft, welche eine Eigentümlichkeit der geeinten Persönlichkeit darstellt.“[19]

Doch die Wahrnehmung des alten Menschen als Verkörperung von Weisheit, wie sie sich etwa in der Jungschen Archetypenlehre widerspiegelt, hat, wenn sie sich im Alltag als zu hehres Ideal erweist, eine dunkle, der positiven Identifizierung eher abträgliche Seite. Simone de Beauvoir bemerkt, dass die Alten von der Gesellschaft häufig zu „Anderen“ im Sinne von „Fremden“ gemacht werden, und dass man sie daher nicht selten exkludiert und mitunter sogar schmäht:

„Ehe es nicht über uns selbst hereinbricht, ist das Alter etwas, das nur die anderen betrifft […]. Wenn die Alten die gleichen Wünsche, die gleichen Gefühle, die gleichen Rechtsforderungen wie in der Jugend bekunden, schockieren sie; bei ihnen wirken Liebe, Eifersucht widerwärtig oder lächerlich, Sexualität abstoßend, Gewalttätigkeit lachhaft. Sie müssen ein Beispiel für alle Tugenden geben. Vor allem fordert man von ihnen heitere Gelassenheit; man behauptet einfach, sie besäßen sie, was einem erlaubt, gleichgültig über ihr Unglück hinwegzusehen. Weichen sie von dem erhabenen Bild ab, das man ihnen aufnötigt, nämlich dem des Weisen mit einem Heiligenschein weißer Haare, reich an Erfahrung und verehrungswürdig, hoch über dem menschlichen Alltag stehend – so fallen sie tief darunter: diesem Bild steht das des alten Narren gegenüber, der dummes Zeug faselt und den die Kinder verspotten. Auf jeden Fall stehen die Alten, sei es dank ihrer Tugend, sei es durch ihre Erniedrigung, außerhalb der Menschheit.“[20]

 Trotz der Gefahr der Exkludierung, die diesem Altersbild bei Abweichung vom Erwarteten fraglos innewohnt, ist es mit Sicherheit aber auch eines der positivsten, das sich in den Märchen und weit darüber hinaus auch in anderen Bereichen der Kulturgeschichte über das Alter und die Alten ausmachen lässt. „Die Nixe im Teich“ ist nicht das einzige Grimmsche Märchen, in dem eine mysteriöse alte Person als Helfer in Erscheinung tritt und mit dazu beiträgt, dass sich am Ende doch noch alles zum Guten wendet. Neben der bösen Hexe ist der Figurentyp des (beziehungsweise der) weisen Alten eines der häufigsten Altersbilder, das einem in den Märchen begegnet. Greise, doch machtvolle und überwiegend zauberkundige Alte unterstützen die Protagonisten und beeinflussen damit den Handlungsverlauf in positiver Weise.[21]

Welf-Gerrit Otto

Hörtipp zur Lektüre: The Water Song, Incredible String Band, Album: The Hangman’s Beautiful Daugther, 1968

 

Anmerkungen

[1] Grimm 1843, II: 425-432.

[2] Grimm 1857, II: 377-383.

[3] Hans-Jörg Uther liefert einen gelungenen Überblick über die Entstehungsgeschichte des Märchens. Uther 2013: 354-356.

[4] Haupt 1841: 202-205.

[5] Uther 2013: 354.

[6] Vgl. dazu Bächtold-Stäubli 2008, IX: 145-147.

[7] Vgl. dazu Bächthold-Stäubli 2008, IX: 174-175.

[8] Theophrast von Hohenheim 1996: 38.

[9] Ders. 102. Zu Paracelsus‘ Konzeption der Beseelung von Elementargeistern vgl. auch Stauffer 1999.

[10] Vgl. Uther 2013: 354.

[11] Lüthi 1997.

[12] Altes Testament, Buch der Richter 10,6-12,7.

[13] Beit 1965, II: 102-103.

[14] Kast 2002.

[15] Vgl. beispielsweise „Der Krautesel (KHM 22), „Der Eisenofen (KHM 127).

[16] Ingrid Riedel: Die weise Frau. Der Archetyp der alten Weisen in Märchen, Traum und Religionsgeschichte. Patmos Verlag 2016.

[17] www.patmos.de (Stand 20.11.2016).

[18] Zur Jungschen Ausdeutung der Alchemie vgl. Jung 2001.

[19] Jung 1983: §404.

[20] Beauvoir 1988: 8.

[21] Im Märchen „Der Teufel mit den drei goldenen Haaren“ (KHM 29) ist es des Teufels Großmutter höchstpersönlich, die den Helden vor ihrem Enkel verbirgt und ihm zu einigen, für das Happy End der Geschichte unumgänglichen Informationen verhilft. Ähnlich gestrickt ist „Der Teufel und seine Großmutter“ (KHM 125), nur dass dort neben der Großmutter des Teufels noch eine weitere alte Frau helfend in den Verlauf der Handlung eingreift. In der kurzen ätiologischen Erzählung „Rohrdommel und Wiedehopf“ gibt ein alter Kuhhirte Tipps für die Viehhaltung (KHM 173). Eine alte Kröte ist es, die in „Der Eisenofen“ (KHM 127) eine Prinzessin durch mehrere Zaubergegenstände Beistand gewährt. Im Märchen „Vogel Phönix“ (KHM 75a) retten ein alter Mann und ein altes Mütterchen durch allerlei Magie ein Waisenkind vor dem sicheren Tod. „Der Räuberbräutigam“ (KHM 40) handelt ebenfalls von Hilfe und Rettung durch Alte, ebenso die Erzählungen „Das Mordschloss“ (KHM 73a), „Der alte Hildebrand“ (KHM 95), „Das Wasser des Lebens“ (97), „Der süße Brei“ (KHM 103), „Der Krautesel“ (KHM 122), „Die zertanzten Schuhe (KHM 133), „Der Stiefel von Büffelleder (KHM 199), „Die wahre Braut“ (KHM 186), „Der Räuber und seine Söhne“ (KHM 191a), „Armut und Demut führen zum Himmel (KHM 204). Bemerkenswerterweise handelt es sich bei den weisen Alten der Märchen in der Mehrzahl um weibliche Figuren.

Literatur

Bächthold-Stäubli, Hanns (Hg.) (2008): Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. 10 Bde. Berlin : Walter de Gruyter.

Beit, Hedwig von (1952) : Symbolik des Märchens. Bern : Francke.

Beauvoir, Simone de (1988): Das Alter. Rowohlt : Reinbek bei Hamburg : Rowohlt.

Beit, Hedwig von (1965): Symbolik des Märchens. Bd. 2: Gegensatz und Erneuerung im Märchen. 2. verbesserte Aufl. Bern: Francke.

Grimm, Jacob und Wilhelm (1843): Kinder und Hausmärchen. Gesammelt durch die Brüder Grimm. Zweiter Band. Grosse Ausgabe. Fünfte, stark vermehrte und verbesserte Auflage. Göttingen: Verlag der Dieterichischen Buchhandlung.

Grimm, Jacob und Wilhelm (1857): Kinder und Hausmärchen gesammelt durch die Brüder Grimm. Zweiter Band. Große Ausgabe. Siebente Auflage. Göttingen. Verlag der Dieterichschen Buchhandlung.

Haupt, Moriz (Hg.) (1841): Zeitschrift für deutsches Alterthum und deutsche Literatur. Bd. 1.

Jung, Carl Gustav (1983): Die Archetypen und das kollektive Unterbewußte. Gesammelte Werke 9/1. 5. Aufl. Düsseldorf: Patmos.

Jung, Carl Gustav (2001): Paracelsus. Alchemie und die Psychologie des Unbewussten. Krummwisch: Königsfurt.

Kast, Verena (2002): Die Nixe im Teich. Wie eine Frau ihren Mann zurückgewinnt. Freiburg i. Brsg.: Kreuz.

Lüthi, Max (1997): Das europäische Volksmärchen. Form und Wesen. 10. Aufl. Tübingen: A. Francke.

Riedel, Ingrid (2016): Die weise Frau. Der Archetyp der alten Weisen in Märchen, Traum und Religionsgeschichte. 1. Aufl. Ostfildern: Patmos.

Stauffer, Isabelle-Gloria (1999): Undines Sehnsucht nach der Seele. Über Paracelsus Konzeption der Beseelung von Elementargeistern im Liber de nymphis, sylphis,[…]. In: Nova Acta Paracelsica 13, 1999. S. 49-101.

Theophrast von Hohenheim (1996): Liber de nymphis, sylphis, pygmaeis et salamandris, et de caeteris spiritibus. Faks. der Ausgabe Basel, 1590. Hrsg. v. Gunhild Pörksen. Marburg/Lahn: Basilisken-Presse.

Uther, Hans-Jörg (2013): Handbuch zu den „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm. Entstehung – Wirkung – Interpretation. 2. Aufl. Berlin: Walter de Gruyter.