Zwischen Fitnessstudio und Jobcenter
seit 1970 Dienstleistungsgesellschaft / seit 2000 Digitalisierung
Angestellte und Mitarbeiter: Dienstleistungsgesellschaft und Tertiärisierung
seit 1970
„Halt die Deadline ein, so ist’s fein / Hol‘ die Ellenbogen raus, burn dich aus/ 24,7, 8 bis 8, Was geht ab, machste schlapp / what the fuck?!“
[„Bück dich hoch“, Deichkind 2012]
Zweiter Weltkrieg. Völkermord, Bombenhagel, Blitzkrieg und Vertreibung. Europa nach dem Regen. Städte und Industrie – nicht mehr als verkohlte Ruinen, Trümmerfelder. Kollektives Trauma. Alles steht auf Anfang. Krieg als Reset-Taste nicht allein für Politik und Wirtschaft, sondern für die Gesamtheit von Kultur und Zivilgesellschaft. Alle Systeme nach Fehlfunktion automatisch zurückgesetzt. Immerhin gibt es Überlebende. Und insgesamt leben auf der Erde um die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts etwa zweieinhalb Milliarden Menschen. Marshallplan und anschließendes Wirtschaftswunder sorgen dafür, dass man in Mitteleuropa nicht den Anschluss zu den Industrienationen des Westens verliert. Ganz im Gegenteil. Die Bundesrepublik entwickelt sich innerhalb kürzester Zeit zu einer der wohlhabendsten Gesellschaften überhaupt. Im Osten sieht das anders aus. Überwachungsstaat, Planwirtschaft und vermeintlicher Sozialismus bilden bis zur politischen Wende am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts eine leider nicht allzu überzeugende Alternative zum Hyperkapitalismus des Westens.
Informationstechnik gewinnt im zwanzigsten Jahrhundert zunehmend an Bedeutung. Zuerst durch Radio, später durch das Fernsehen. Elektronische Medien werden zu einem nicht zu unterschätzenden Propagandainstrument für Politik und Wirtschaft, das sowohl zur Festigung politischen Selbstverständnisses in Ost und West, als auch für Werbung und Reklame eingesetzt wird. Daneben erlebt die Populärkultur durch die neuen Aufzeichnungs- und Sendetechniken an überregionalem Einfluss. In den 1970er Jahren intensiviert sich der Einsatz von Elektronik und Computertechnik am Arbeitsplatz. Durch die Kriegstechnik hatte es einen Quantensprung in der Entwicklung gegeben, der nun in Friedenszeiten auf zivile Einsatzbereiche übertragen wird.
In den 1970er Jahren beginnt mit der Gründung der Firmen Microsoft und Apple die Ära der Personal-Computer. Zum Soundtrack der Bee Gees vollzieht sich ein wirtschaftlicher Strukturwandel.[1] Industriegesellschaften wandeln sich im Prozess der Tertiärisierung zu Dienstleistungsgesellschaften.[2] Bestimmte Industriezweige werden ins Ausland verlagert, um die Produktionskosten möglichst gering zu halten. Mangelnder Arbeitsschutz und Lohn-Dumping sind dabei an der Tagesordnung. Die vor Ort verbliebene verarbeitende Industrie wird durch die Neuerungen von Computertechnik und Robotik weiter automatisiert und in ihrer Produktivität gesteigert, so dass immer weniger Arbeitskräfte zur Bedienung der Maschinen erforderlich sind.
Der volkswirtschaftlichen Drei-Sektoren-Hypothese zufolge konzentriert sich wirtschaftliche Tätigkeit zunächst auf Rohstoffgewinnung, also den primären Sektor Landwirtschaft. Anschließend verlagert sich der Schwerpunkt auf die Rohstoffverarbeitung, den sekundären Sektor: Handwerk und später Industrie. Schließlich binden die Dienstleistungen des tertiären Sektors die überwiegende Arbeitskraft.[3] Primärer und sekundärer Sektor werden entweder in Länder mit geringen Produktionskosten ausgelagert oder sie werden derart automatisiert, dass kaum noch Leute dafür eingesetzt werden müssen. Stattdessen arbeiten die Menschen überwiegend im Dienstleistungsbereich. Aus Fabrikarbeitern und Bergleuten sind Angestellte und Mitarbeiter geworden.
Computer übernehmen zunehmend menschliche Arbeitsbereiche. Im Krisenjahrzehnt der 1970er Jahre beginnt der Siegeszug der Informationstechnik am Arbeitsplatz. Kommunikations- und Fertigungstechniken werden eng miteinander verzahnt. Da immer mehr repetitive Arbeiten von Maschinen ausgeführt werden können, erwartet man vom Arbeitnehmer höhere Qualifikationen, die Bereitschaft zu lebenslangem Lernen sowie überbordende Flexibilität. Vom Individuum wird stetige Selbstoptimierung gefordert. Es beginnt das Zeitalter der Fortbildungen, Qualifizierungsmaßnahmen, Umschulungen.
Anhand der Anzahl der Erwerbstätigen in den einzelnen Wirtschaftssektoren ist ersichtlich, dass Westdeutschland bis etwa zur Mitte der 1970er Jahre eine Industriegesellschaft war. Exponentiell gewinnt seit Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts der tertiäre Sektor an Bedeutung. Bezüglich der Wertschöpfung überflügelt er bald den sekundären Sektor. Heutzutage arbeiten die meisten Menschen in der Bundesrepublik im Dienstleistungsgewerbe. Für das Jahr 2017 verzeichnet das Statistische Bundesamt 1,4% Beschäftigte im primären Sektor, 24,1% im sekundären und 74,5% im tertiären Sektor.[4] Das Spektrum der diesbezüglichen Erwerbsarbeiten könnte vielfältiger kaum sein. Es reicht vom Büroangestellten, über Fensterputzer, Französischlehrerin, Altenpfleger, Prostituierte, Bankkauffrau, Proktologen bis zum Call-Center-Telefonisten und Raumpfleger.
Die höchsten Beschäftigungszuwächse verzeichnen Bürojobs, Pflegeberufe und Tätigkeiten im Bereich der Datenverarbeitung. Insbesondere im Bereich der fachlichen und inhaltlichen Qualifikation sowie der sozialen Kompetenzen steigen die Anforderungen unaufhaltsam. Zugegebenermaßen gibt es natürlich auch weiterhin niedrigschwellige Dienstleistungsberufe. Allerdings werden in den postindustriellen Gesellschaften des Westens Arbeits- und Kapitalressourcen durch Wissen und Information als Hauptquellen wirtschaftlicher Wertschöpfung ersetzt.[5] Die Industriegesellschaft produziert Güter, die nachindustrielle Gesellschaft ist in erster Linie eine Informations- und Wissensgesellschaft.
Arbeit hat sich in der Dienstleistungsgesellschaft im Vergleich zu früher erheblich gewandelt. Insgesamt wird vom Arbeitnehmer eine stärkere Eigenverantwortung erwartet. Bildung spielt dabei eine wesentliche Rolle. Seit dem Ende des letzten Jahrtausends kommt die Forderung nach mehr Flexibilität hinzu. Häufige Arbeitsplatzwechsel, Bereitschaft zu unbezahlten Überstunden, Anpassung des Familienlebens an die Vorgaben des Stellenprofils und vieles mehr macht die Optimierung der Work-Life-Balance zu einem anspruchsvollen Unterfangen.
In der letzten Zeit hat sich das Problem der Arbeitslosigkeit und prekären Beschäftigung zu den auch sonst schon sehr spannungsreichen Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt hinzugesellt. Glaubte man um die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts noch, die Tertiärisierung würde Erwerbslosigkeit breiter Bevölkerungsschichten verunmöglichen, da Dienstleistungsberufe rationalisierungsresistent seien, weiß man es heute besser. Gegenwärtig sorgen prekäre Beschäftigungsverhältnisse, etwa Teilzeitstellen oder befristete Arbeitsverträge, für eine ansteigende Unsicherheit auf dem Arbeitsmarkt. Da hilft es auch nicht, dass die Arbeitslosenzahlen statistisch geschönt werden. Das Prekariat hat das Proletariat früherer Zeiten ersetzt. Und im Gegensatz zu diesem gibt es bedauerlicherweise aufgrund der Heterogenität der Milieus bisher kaum Solidarität unter seinen Vertretern.
Das neoliberale Credo der Gegenwart kennt keine Verantwortung für den Nächsten. Jeder ist seines Glückes Schmied. Jeder ist verantwortlich für seinen privaten und beruflichen Erfolg oder Mißerfolg. Spätestens seit der Agenda 2010 ist der Sozialstaat ins Hintertreffen geraten. Die Idee gegenseitiger Verantwortung und Fürsorge weicht egoistischen Bereicherungsbestrebungen. Eine um sich greifende Attitüde der Abschottung macht sich breit. Aus Kollegen sind vielerorts Konkurrenten geworden. Das gilt natürlich nicht für jeden Arbeitsplatz. Glücklich sollte der sich schätzen, der unbeleckt von derlei Trübsal in freundlicher Arbeitsatmosphäre zum Wohle seiner Mitmenschen fröhlich wirkt. Doch sind Tendenzen auf dem heutigen Arbeitsmarkt verzeichnen, die zunehmend unzumutbar sind und sich über kurz oder lang zu sozialem Brennstoff entwickeln werden.
Hörtipps zur Lektüre:
- „Systematic Death“, Jeffrey Lewis, Album: 12 Crass Songs, 2007
- „Bück dich hoch“, Deichkind, Album: Befehl von ganz unten, 2012
- „Dann geht’s mir gut“, Georg Kreisler, Album: Vorletzte Lieder, 1972
Homeworker und Prekarianer: Digitalisierung und Industrie 4.0
seit 2000
„Welcome to the internet. The old world is dead / Welcome to the internet. We never go to bed / Welcome to the internet. The old world is dead / Welcome to the internet. The future is ahead.“
[„Welcome to the Internet“, Fraktus 2015]
Fast acht Milliarden Menschen leben heute auf der Erde. Tendenz rasant steigend. Im Vergleich zu 1950 hat sich die Weltbevölkerung verdreifacht. Und seit der Erfindung des Buchdrucks in der westlichen Welt durch Johannes Gutenberg im fünfzehnten Jahrhundert hat es keine bedeutendere Neuerung im Informationswesen gegeben als die breitenwirksame Kommerzialisierung des Internets um die Jahrtausendwende. Als Vierte Industrielle Revolution oder Industrie 4.0 wird die durch Internet sowie portable computerbasierte Kommunikationsgeräte veränderte Arbeitswelt bezeichnet.
Eigentlich beginnt die Geschichte des Internets bereits Ende der 1960er Jahre. Das „Advanced Research Projects Agency Network“, kurz Arpanet, wird zu dieser Zeit im Auftrag des US-Verteidigungsministeriums vor dem politischen Hintergrund des Kalten Krieges entwickelt. Es gilt als Vorläufer des heutigen Internets.[6] In den darauffolgenden Jahrzehnten nutzt man das Prinzip digitaler Vernetzung ausschließlich für Militär und Wissenschaftsbetrieb. 1990 entscheidet die US-amerikanische National Science Foundation, das Internet für kommerzielle Zwecke zu öffnen. Bemerkbar im privaten und beruflichen Bereich von Lieschen Müller und Otto Normalverbraucher macht sich dies allerdings erst in den Jahren um das Millennium.
In der Folge allerdings überschlagen sich die Ereignisse. Das Internet wird bald zu einem integralen Modul der neuen Arbeitswelt. Die moderne Informationstechnologie hält Einzug in nahezu jeden Bereich heutiger Erwerbsarbeit. Vom Mitarbeiter werden in erstaunlich kurzer Zeit völlig neue E-Skills gefordert. Heilerziehungspfleger sind genauso davon betroffen wie beispielsweise Heizungsinstallateure oder Arzthelferinnen. IT-Kenntnisse werden heute überall vorausgesetzt. Neue Berufsfelder entstehen, alte verschwinden. EDV-Fachleute, Programmierer, IT-Manager waren noch vor wenigen Jahrzehnten weitgehend unbekannt, heute sind diese neuen Berufe nicht mehr wegzudenken.
Nach und nach verschwinden Berufszweige, die noch vor kurzem als feste Bestandteile der postmodernen Dienstleistungsgesellschaft galten. Wo man vor der Digitalisierung zwei bis drei Mitarbeiter für unterschiedliche Tätigkeitsbereiche benötigt hatte, ist nunmehr oft nur noch einer erforderlich. Etwa werden jene Tätigkeiten, für die vor der digitalen Revolution noch ein technischer Zeichner benötigt wurde, heute mithilfe entsprechender Software vom Architekten selbst erledigt. Ganze Gewerbezweige verlagern sich auf das Internet. Reisebüros, Leihvideotheken, Buchhandlungen, Pornokinos werden durch das Online-Angebot zunehmend obsolet. Es gibt sie zwar noch im Stadtbild, aber bis auf wenige Ausnahmen gewiß nicht mehr lange. Um die Jahrtausendwende schießen Internetcafés wie Pilze aus dem Boden. Heute, wo mittlerweile fast jeder Privathaushalt über einen eigenen Internetzugang verfügt, sind derartige Angebote ebenso Geschichte geworden, wie bereits etwas früher Toiletten auf halber Treppe oder öffentliche Badehäuser.
Die digitale Revolution hält auch Einzug im Fernsprechwesen. In 97 Prozent der deutschen Haushalte gibt es mittlerweile mindestens ein Mobiltelefon. Im Jahre 2000 galt dies nur für rund 30 Prozent.[7] Telefonzellen sind überflüssig geworden in einer Welt, in der jeder Schulanfänger ein schickes Smartphone am Start hat. Unser aller Leben wird inzwischen beträchtlich beeinflußt durch mobile internetbasierte Kommunikationsmittel. Soziale Netzwerke, etwa Facebook, werden nicht nur von unzähligen Privatpersonen, sondern mittlerweile auch von Unternehmen genutzt.
Online-Geschäftsmodelle verdrängen die herkömmlichen Angebote. Suchmaschinen, Online-Datenbanken und -archive ersetzen den Gang zur Bücherei oder andere langwierige Recherchen außer Haus. Gleiches gilt für das Nachrichtenwesen. Printmedien werden von Online-Angeboten ersetzt. Internet-Ärzte unterstützen uns bei der Selbstdiagnose, Dating-Seiten bei der Partnerwahl und Streaming-Portale bei Unterhaltung und Selbstbefriedigung. Auch um Waren zu erwerben, muss man in der schönen neuen Welt des Internets nicht mehr das Haus verlassen. Schier alles kann bestellt werden – vom Kochbuch bis zur Panzerfaust. Mittlerweile bietet der Onlineversand Amazon sogar Lebensmittel in seinem Sortiment an. Und auf dem Kryptomarkt des Darknets wird dem interessierten Kunden daheim im Sessel feilgeboten, was es eigentlich gar nicht geben dürfte: harte Drogen, Massenvernichtungswaffen, Sklaven.[8]
Darüber hinaus ist eine Verlagerung der Dienstleistungen auf den Kunden selbst zu beobachten. Bereitgestellt wird zunehmend nur noch die notwendige Technologie. Die Arbeit muss der Kunde dann selbst verrichten. Etwa die Buchung von Flugtickets oder Hotelzimmern. Kein Reisebüroverkäufer ist mehr erforderlich, der einen fachmännisch dabei berät. Mittlerweile erleben wir diese Tendenz auch im Supermarkt oder Warenhaus. In wenigen Jahren werden die menschlichen Kassierer vollständig von unbemannten Kassier-Automaten ersetzt worden sein. Die Kunden selbst scannen die Artikel vor Ort und übernehmen so die Arbeit, für die vormals ein Arbeitnehmer bezahlt wurde. Das Unternehmen indes spart Lohn und Lohnnebenkosten ein. Internet und Digitalisierung haben in der Arbeitswelt einen bahnbrechenden Wandel verursacht. Das gilt nicht allein für Berufszweige und Geschäftsmodelle. Das gilt für den gesamten beruflichen Alltag. Da immer mehr Arbeiten von Automaten übernommen werden, und diese sich überdies rasant weiterentwickeln, wird Weiterbildung und Qualifizierung immer bedeutsamer. Lebenslanges Lernen ist angesagt.
Die neue Technologie der Vernetzung ermöglichen in vielen Branchen das Arbeiten von jedem Ort und zu jeder Zeit. Vorausgesetzt, man verfügt über eine adäquate Internetverbindung und die entsprechenden Kenntnisse. Das schafft zugegebenermaßen Flexibilität. Mobiles Arbeiten und Homeoffice bedeuten einerseits eine Zunahme an persönlicher Freiheit. Andererseits werden aber auch neue Zwänge geschaffen. Erwerbsarbeit entgrenzt sich in zeitlicher wie auch in räumlicher Hinsicht.[9] Flexible Arbeitsplatz- und Arbeitsortmodelle bieten sowohl Vor- als auch Nachteile. Denn permanente Verfügbarkeit kann durchaus belastend sein. Im besten Fall halten sich Chancen und Herausforderungen der neuen Arbeitswelt die Waage.
Doch nicht allein die neue Technologie sorgt durch das Phänomen der Entgrenzung gegenwärtig bei vielen Arbeitnehmern für Stress. Befristete Arbeitsverhältnisse, ungewollte Teilzeitbeschäftigungen und geringfügige Entlohnungen machen das Leben nicht selten unplanbar. Wer will schon eine Familie gründen oder sich an seinem Wohnort ehrenamtlich engagieren, wenn der Arbeitsvertrag auf wenige Jahre begrenzt ist und man nicht weiß, wo man danach bleibt.
Befristete Arbeitsverträge sind inzwischen der Normalfall. 2017 belaufen sich die befristeten Beschäftigungen in der Bundesrepublik einer Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung zufolge auf insgesamt 8,3 Prozent der Erwerbstätigen. Bei den Neueinstellungen sieht es sogar noch dramatischer aus: 43,5 Prozent der betrieblichen Gesamtbeschäftigung, also fast die Hälfte aller neuen Jobs im Jahr 2017, gründen auf befristete Arbeitsverträge.[10] Was das für die Betroffenen bedeutet, liegt auf der Hand. Unsicherheit in vielfacher Hinsicht. Die Angst vor Arbeitsplatzverlust ist zu einem ständigen Begleiter geworden. Befristungen sind die Peitsche im Nacken des Arbeitnehmers, die ihn zu immer größerer Effizienz antreiben soll. Gleichzeitig sinkt die Verantwortung des Arbeitgebers für seine Beschäftigten gleichsam auf den Nullpunkt. Prekarisierung macht die Leute gefügig.
Und so etabliert sich eine Zweiklassengesellschaft. Konkurrenzdenken breitet sich aus. Soziale Unsicherheiten in der Arbeitswelt spielen nicht selten extremen politischen Positionen in die Hand. Die Mutter aller Probleme ist fraglos die soziale Ungerechtigkeit unserer Tage – in nationaler wie auch in globaler Hinsicht. Überdies generieren permanente Überlastung und Ungewissheit Krankheitsbilder, die unsere Großeltern noch nicht kannten. Sorgen, Ängste, Stress führen über kurz oder lang zu Beschwerden in vielfacher Hinsicht. Nachweislich haben die Fehlzeiten in den vergangenen Jahren aufgrund psychosomatischer Ursachen drastisch zugenommen.[11] Stress ist zur Volkskrankheit geworden.
Ein Ende der Arbeit[12] indes ist nicht abzusehen, und so müssen wir uns Sisyphos wohl als einen glücklichen Menschen vorstellen.[13] Denn dem Absurden kann man sich nicht entziehen. Man kann es annehmen. Aber noch besser ist, dagegen aufzubegehren. Die technischen Errungenschaften der Gegenwart sind ambivalent. Neben neuen Unzumutbarkeiten schaffen sie vielfach auch deren Lösungsansätze. Es kommt immer darauf an, in welcher Weise man sich ihrer bedient. Und den Menschen dabei nicht aus den Augen zu verlieren, sollte dabei oberste Priorität haben.
Erstmals in der jüngeren Geschichte der Menschheit kann durch das Internet beinahe jeder über die Informationen verfügen, die er für angemessene politische Entscheidungen benötigt. Basisdemokratie und Partizipation in vielfacher Hinsicht sind in den komplexen Gesellschaften der Gegenwart grundsätzlich möglich geworden.[14] Neue Gestaltungsmöglichkeiten des Zusammenlebens und der Vergemeinschaftung sollten daher ausgelotet, anstatt im Vornhinein als alternativlos geschmäht zu werden. Unsere Reise geht weiter. Machen wir das Beste daraus.
Welf-Gerrit Otto
Früher: Sisyphos 3: Dampfmaschinen Automatengötter, Aufbruchstimmung
Später: Sisyphos 5: Pandemischer Almanach: Ansteckende Ideen zur Zukunft der Arbeit
Hörtipps zur Lektüre
- „Computerstaat“, Abwärts, Album: Computerstaat, 1980
- „Welcome to the Internet“, Fraktus, Album: Welcome to the Internet, 2015
- „Stressed out“, twenty øne piløts, Album: Blurryface, 2015
Anmerkungen
[1] Hörtipp zum Sujet: „Stayin‘ Alive“, Bee Gees, Album: Saturday Night Fever. The Original Movie Sound Track, 1977.
[2] Vgl. Bell 1985.
[3] Vgl. Fourastié 1954.
[4] Destatis 2017: Gesamtwirtschaft & Umwelt – Arbeitsmarkt (www.destatis.de, Stand 26.12.2018).
[5] Vgl. Touraine 1969.
[6] Vgl. Schmitt 2016.
[7] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/198642/umfrage/anteil-der-haushalte-in-deutschland-mit-einem-mobiltelefon-seit-2000/ (Stand 05.01.2019).
[8] Vgl. Mey 2017.
[9] Vgl. Jurczyk 2009.
[10] https://de.statista.com/infografik/14544/befristete-arbeitsverhaeltnisse-in-deutschland/ (Stand 07.01.2019).
[11] https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/72732/Psychische-Erkrankungen-Fehltage-erreichen-Hoechststand (Stand 07.01.2019).
[12] Rifkin 1997.
[13] Camus 2000.
[14] Vgl. Dieterich 2006.
Früher: Sisyphos 3: Dampfmaschinen Automatengötter, Aufbruchstimmung