„Vom Eise befreit …“

Frühlingsflora im Spiegel von Mythologie und Volksglaube

Wildgemüse im Jahreslauf, Teil I: Frühlingserwachen

„Vom Eise befreit sind Strom und Bäche
Durch des Frühlings holden, belebenden Blick
Im Tale grünet Hoffnungs-Glück
Der alte Winter, in seiner Schwäche
Zog sich in rauhe Berge zurück.“

[Johann Wolfgang Goethe: Faust I, Osterspaziergang, 1808]

Flora and the Zephirs (John William Waterhouse, 1898)

Nun also ist wieder einmal Frühling. Lang dauerte der Winter. Der trieb Menschen und Tiere schon im späten Herbst in ihre Behausungen oder in wärmere Gefilde und hat alles still und reglos gemacht. Laublos, lautlos, leblos. Beinahe lichtlos dann die Zeit um Wintersonnenwende, Jul, Weihnacht, heilige Nacht. Vermeintlicher Stillstand des Rades ewiger Wiederkehr. Doch das beständige Wandern setzt nicht aus, der Kreis ist ungebrochen. In den Rauhnächten zwischen den Jahren geistert das wilde Heer unter der Führung Odins, respektive des Weihnachtsmanns über das Firmament. Das Chaos des Ursprungs bricht in dieser Zeit der Schatten durch die Fugen astronomischer Ordnung. Sol invictus – die unbesiegte Sonne wird neu geboren.[1] Werden die Tage nach Wintersonnenwende dann wieder länger, nimmt paradoxerweise auch der Winter in seiner Strenge zu. Der Februar ist der kälteste Monat des Jahres. Sein alter Name Hornung rührt daher, dass zu dieser Zeit die Hirsche ihr Geweih abwerfen. Nun im Frühling bricht sich das Leben erneut Bahn. Die Natur ist in Aufbruchsstimmung. Das stetig an Dauer zunehmende Licht ist ein starker Impuls für Pflanzen und Tiere.

Die Wiederkehr des Lichts ist elementarer Ausdruck dieser Jahreszeit. „Lenz“ gilt als ältestes Wort der deutschen Sprache für Frühling. Es bezieht sich in seiner Bedeutung unmittelbar auf das Längerwerden der Tage.[2] Klimatisch und wetterbedingt ist der zeitige Frühling gleichsam ein Ginnungagap der Gegensätze, ein schöpferischer Zwiespalt zwischen dem brünstigem Feuer der wiedererwachten Sonne und den kühlen Schauern der Winterschmelze. Sprichwörtliches Aprilwetter eben. Astronomisch wird der Jahreskreis in die beiden Sonnenwenden zu Sommer– und Winterbeginn sowie die beiden Tagundnachtgleichen zu Frühlings- und Herbstbeginn unterteilt. Der astronomische Frühlingsbeginn fällt auf das Primär-Äquinoktium um den zwanzigsten März und bot bereits den ackerbauenden Kulturen des Neolithikums eine wichtige Orientierung für die Aussaat. Nicht zuletzt aus (land-) wirtschaftlichen Erwägungen, errichteten die Menschen des Altertums astromische Observatorien als Kultstätten (etwa Stonehenge oder Goseck) und entwarfen komplizierte Instrumente zur Zeitbestimmung (etwa die Himmelsscheibe von Nebra oder den Mechanismus von Antikythera).

The Wolves persuing Sol and Mani (John Charles Dollman, 1909)

Der kalendarische Frühlingsanfang indes richtet sich nicht nach astronomischen Gesetzmäßigkeiten, sondern ganz alltagstauglich nach dem jeweiligen Klima und dem zu erwartenden Wetter in einer bestimmten Region. Seine kulturrelativistische Festlegung gründet sozusagen in tradierter geodeterministischer Empirie. Daher hat man den Frühlingsanfang zu verschiedenen Zeiten und an unterschiedlichen Orten divers datiert.[3] Denn auch das Klima an ein und demselben Ort wandelt sich mit der Zeit. Natürlich und – erschreckenderweise jüngst auch anthropogen. Die Nacht vom ersten auf den zweiten Februar galt den keltischen Stämmen Irlands als Lichtfest. Die Katholiken feiern noch heute Mariä Lichtmess am gleichen Termin. Das Kirchenjahr kennt noch weitere Frühlingsfeste, die teils auf heidnische Riten zurückgehen. So wurde in manchen Gegenden Mitteleuropas früher Petri Stuhlfeier am zweiundzwanzigsten Februar als Frühlingsanfang begangen. Am Vorabend findet in Nordfriesland alljährlich das weit über die Region hinaus bekannte Biikebrennen statt, dessen Wurzeln möglicherweise in vorchristlichen Kulten gründen. Auch wurde mancherorts wahlweise der vierundzwanzigste Februar (Heiliger Matthias), der siebzehnte März (Heilige Gertrude) oder der fünfundzwanzigste März (Mariä Verkündigung) als Beginn des Frühlings gefeiert. Am Südhang eines Berges mag es windstiller und sonniger gewesen sein als auf weiter Flur. Doch insbesondere ein Fest des christlichen Jahreslaufs stellt alle übrigen Frühlingsfeste in den Schatten, und dies überregional. Ostern gilt als Hauptfest der Christenheit, obwohl Weihnachten zugegebenermaßen in den vergangenen Jahrhunderten im profanen Kontext an Bedeutung gewonnen hat. Es erinnert an den Kern christlicher Weltanschauung, der Kreuzigung und Wiederauferstehung von Jesus Christus, dem Sohn Gottes. Laut Überlieferung im Neuen Testament fiel dieses Ereignis in die Pessach-Woche, in der die Juden ihres Auszugs aus Ägypten und der Befreiung aus der Sklaverei gedenken. Ostern, berechnet nach dem Lunisolarkalender, richtet sich an diesem Termin aus, der stets auf den ersten Sonntag nach dem Frühlingsvollmond fällt – frühestens am zweiundzwanzigsten März und spätestens am fünfundzwanzigsten April.

Po vodam (Ivan Aivazovsky, 1888)

Die österliche Symbolik des gekreuzigten und wiederauferstandenen Heilands, der den Tod besiegt, um aus finsterem Grabe zu neuem Lichte emporzusteigen, bezieht sich unmittelbar auf das Wiedererwachen der Vegetation im Frühling. Denn die war für unsere Vorfahren existentiell – wie sie es auch heute noch für uns ist. Unmerklicher vielleicht, aber nichtdestotrotz unausgesetzt fundamental, weil essbar wie das Abendmahl. Einige bibelfeste Christen werden dieser Auffassung sicherlich vehement widersprechen. Doch Mythos und Volksbrauch strafen jene Lügen, die ihre Religion allzu isoliert von der Natur und vor- beziehungsweise außerchristlicher Weltanschauung betrachten. Man denke an den altgriechischen Mythos vom Raub der Persephone durch Hades. Dem Unterweltsgott hatte die hübsche Tochter der Demeter so gut gefallen, dass er sie in sein dunkles Reich entführte. Die verzweifelte Mutter befahl daraufhin den Pflanzenwesen ihr Wachstum einzustellen. Schlussendlich sollte es gelingen, Persephone aus den Fängen des Totengottes zu befreien. Ein Granatapfel vereitelte jedoch ihre vollständige Erlösung. Seither verbringt sie vier Monate unter der Erde bei Hades. Während dieser Zeit ruht die Vegetation auf Geheiß ihrer Mutter, bevor im Frühling Tochter und Pflanzenwelt wieder zu neuem Leben erweckt werden.[4] Auch das deutsche Wort „Ostern“ erlaubt Rückschlüsse auf die ursprüngliche Bedeutung. Das Fest wurde von Jacob Grimm mittels philologischer Vergleiche vorchristlich hergeleitet. Abgesehen von der Fülle ganz offensichtlich heidnisch inspirierter Fruchtbarkeitsbräuche, die mit ihm in Verbindung stünden, etwa Ostereier und Osterhasen,[5] verweise allein die Etymologie des Begriffs auf eine germanische Frühlingsgöttin: „Ostara, Eástre mag also gottheit des strahlenden morgens, des aufsteigenden lichts gewesen sein, eine freudige, heilbringende erscheinung, deren begrif für das aufstehungsfest des christlichen gottes verwandt werden konnte.“[6]

Der Raub der Proserpina/Persephone (Joseph Heintz, um 1600)

Frühlingserwachen. Erde und Himmel vereint im lichten Tanz kosmischer Hochzeit. Grünend verjüngt sich fahles, von Kälte und Schnee geknicktes Gekraute, knospendes Blattwerk an Zweigen ehemals kahler Bäume. Es ist, als hätten die aus tiefem Schlummer erweckten Pflanzengeister Idunas oder der Hesperiden Äpfel gekostet.[7] Flora, die griechische Göttin der Blüte, hüllt das Land in ihren betörenden Duft. Lockt Bienen, Käfer, Gewürm aus den Tiefen ihrer winterlichen Verstecke. Der Kunstgeschichte gilt Flora als Allegorie des Frühlings. Im Alten Rom gab es zwei Tempel, die ihr geweiht waren. Und in jedem Frühling fanden ihr zu Ehren die ausgelassenen ludi florales im Zirkus statt, bei denen Hasen und Rehe gejagt wurden.[8] Der Frühling, in dem der Mensch gemeinsam mit der Natur wieder zu neuem Leben erwacht, wurde seit jeher mit großer Sehnsucht erwartet. Je ferner die Zeiten zurückliegen, desto unerträglicher war den Leuten das Joch des Winters. Weder Solarium noch Fernreise hellte die Gemüter auf. Gegen Ende der kalten Jahreszeit waren die Vorräte in den lichtlosen Verschlägen aufgebraucht. Es mangelte an frischer vitaminreicher Kost. Die Haut blaß, schwarze Ringe unter den Augen, das Zahnfleisch zurückgezogen. Mensch und Haustier taumelten bereits in Auflösung. Wie bedeutsam waren da die ersten Frühlingsboten, das erste essbare Grün in Garten, Wald und Flur. Bereits in der griechischen und römische Antike begrüßte man die ersten Schwalben und Störche als Künder der warmen Jahreszeit. Im norddeutschen Raum kannte man ähnliche Rituale. In Westfalen etwa bekam derjenige ein Ei zum Geschenk, der als erster den Ruf des Kuckucks meldete, und in manchen Städten Deutschlands war es üblich, dass die Türmer die Ankunft des ersten Storches anblasen mussten, wofür ihnen man ihnen einen Ehrentrunk aus dem Ratskeller einschenkte.[9]

Eiergabe in einem englischen Dorf, 1944

Auch den ersten Frühlingsblumen schrieb man eine besondere Nähr- und Heilkraft zu. Bereits der römische Historiker und Naturforscher Plinius der Ältere berichtet im ersten nachchristlichen Jahrhundert von dieser bis in unsere Tage verbreiteten Auffassung: „Die Magier erzählen von den Anemonen ein Geheimnis und schreiben vor, man solle die erste Pflanze, die man im Jahr erblicke, abreißen und dabei sagen, daß man sie gegen das drei- und viertägige Fieber gebrauche.“[10] Und wirklich ist es vor allem das junge Gemüse des Frühlings, das eine besondere Potenz als Nahrung und Heilmittel besitzt. Begeben wir uns also auf eine kleine ethnobotanische Exkursion in unsere Nachbarschaft. Direkt vor der Haustür eröffnet sich uns eine geheimnisvolle und sagenumwobene Welt, die nur auf den ersten Blick bekannt und alltäglich erscheint. Denn hinter jedem sogenannten „Unkraut“ verbergen sich unzählige Geschichten und Naturgeister, von denen unsere Großeltern noch manches zu erzählen wussten. Drei Wildgemüse sollen stellvertretend für die drei Monate einer Jahreszeit auf den folgenden Seiten des Mythen-Blogs vorgestellt werden, so dass sich uns am Ende der Quadriga des Jahreskreises zwölf unscheinbare Pflanzen unserer Heimat in einem neuen Licht offenbaren.

Welf-Gerrit Otto

Wildgemüse des Frühlings:

Bärlauch (Allium ursinum)

Große Brennnessel (Urtica dioica)

Gänseblümchen (Bellis perennis)

Hörtipp zur Lektüre: April Come She Will, Simon & Garfunkel, Album: Sounds of Silence, 1966

 

„Flora“, E. J. McCullagh, Stockholm, um 1900

Anmerkungen

[1] Zur Mythologie der Jahreszeitenwechsel vgl. Grimm 1968, III: 227ff.

[2] Vgl. Grimm 1854-1961, 1971, Bd. 12: Sp. 752ff.

[3] Vgl. Bächtold-Stäubli 2008, III: 154f.

[4] Vgl. etwa Tetzner/Wittmeyer 2003: 51ff.

[5] Dass Eier symbolisch für Geburt und neues Leben stehen, ist eine Binsenweisheit, die hier nicht näherer Erläuterung bedarf. Auch der Hase wird in den Mythologien der Völker oft in Verbindung gebracht mit Fruchtbarkeit und den dafür zuständigen weiblichen Gottheiten (z.B. Aphrodite). Zum Hasen als Symbol von Tod und Wiedergeburt vgl. auch die Aktion des Künstlers Joseph Beuys „Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt“ (Düsseldorf 1965). Zur Symbolik des Hasen in der abendländischen Kultur vgl. Dittrich 2004.

[6] Grimm 1968: 241. Zur Wirkungsgeschichte vgl. auch Herrmann 2001: 305. Heute ist die Existenz von Ostara unter seriösen Wissenschaftlern zumindest hinsichtlich der konstruierten Namensgebung umstritten, was allerdings das Vorhandensein eines archaischen Kultes um eine pagane Frühlingsgottheit bei den mitteleuropäischen Eingeborenen nicht grundsätzlich ausschließt. Allerdings ging manch einer zu weit: Ein einflussreicher österreichischer Esoteriker mit dem klangvollen Namen Jörg Lanz von Liebenfels (1874-1954) behauptete etwa, die geheimnisvolle Frühlingsgöttin habe Österreich zu seinem Namen verholfen. Zwischen 1905 und 1935 publizierte der erklärte Rassist und Anhänger der völkischen Bewegung eine Zeitschrift unter dem Titel „Ostara, Briefbücherei der Blonden und Mannesrechtler“. Es steht außer Frage, dass der niederträchtige Mißbrauch von Sagen, Märchen, Volksliedern und -bräuchen durch die Nazis und ihre gesinnungsgleichen Vorgänger viele derartige Überlieferungen über Jahrzehnte hinweg in Mißkredit gebracht hat. Erst die Folkbewegung der 1960er und 1970er Jahre rehabilitierte das geschändete Volksgut wieder im hellen Licht verständiger Humanität.

[7] Die Hesperiden sind eine Gruppe griechischer Nymphen, die ebenso wie die germanische Göttin der Jugend, Iduna, in ihrem Garten spezielle Äpfel anbauen, die den Göttern zu ihrer Unsterblichkeit verhelfen.

[8] Vgl. Graf 1998: 561f.

[9] Vgl. Bächtold-Stäubli 2008, III: 155f.

[10] Plinius der Ältere zit. n. Bächtold-Stäubli 2008, III: 158.

 

Literatur

Arntz, Helmut (2009): Handbuch der Runenkunde. Bonn: Lempertz.

Bächtold-Stäubli, Hanns (2008): Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. 10 Bde. Augsburg: Weltbild.

Dittrich, Sigrid und Lothar (2004): Artikel „Hase und Kaninchen“. In: Lexikon der Tiersymbole. Tiere als Sinnbild in der Malerei des 14. und 15. Jahrhunderts. Petersberg: Imhof. S. 194-206.

Graf, Fritz (1998): Artikel „Flora“. In: Der neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. 18 Bde. Bd. 4. Stuttgart: Metzler. S. 561f.

Grimm, Jacob (1968): Deutsche Mythologie. 3 Bde. Nachdruck der 4. Aufl. (Berlin 1875-78). Graz: Akademische Druck- und Verlagsgesellschaft.

Grimm, Jacob und Wilhelm (1854-1961, 1971): Deutsches Wörterbuch. 16 Bde. in 32 Teilbänden. Quellenverzeichnis 1971. Online einsehbar unter: dwb.uni-trier.de/de (Stand 22.12.2017).

Herrmann, Paul (2001): Deutsche Mythologie. Gekürzte Fassung der Erstausgabe, erschienen im Verlag von Wilhelm Engelmann, Leipzig 1898. Berlin: Aufbau Taschenbuch.

Mörschel, Ulrike (1993): Artikel „Makrokosmos/Mikrokosmos“. In: Lexikon des Mittelalters. 10 Bde. Bd. 6. München: Artemis & Winkler. Sp. 157-159.

Plinius d. Ä. (2007): Die Naturgeschichte des Cajus Plinius Secundus. Ins Deutsche übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Georg Christoph Wittstein. 6 Bde. Leipzig: Gressner und Schramm 1881/82 Neuauflage, hrsg. von Lenelotte Möller und Manuel Vogel. 2 Bde. Wiesbaden: Marix.

Rätsch, Christian (2014): Abgründige Weihnachten. Die wahre Geschichte eines ganz und gar unheiligen Festes. 2. Aufl. München: Riemann.

Simrock, Karl (1995): Die Edda. Götterlieder, Heldenlieder und Spruchweisheiten der Germanen. Vollständige Text-Ausgabe in der Übersetzung von Karl Simrock. Überarbeitete Neuausgabe mit Nachwort und Register von Manfred Stange. Augsburg: Bechtermünz.

Singer, Manfred V. / Teyssen, Stephan (Hrsg.) (2005): Alkohol und Alkoholfolgekrankheiten: Grundlagen, Diagnostik, Therapie. 2. Aufl. Heidelberg: Springer.

Storl, Wolf-Dieter (2007): Heilkräuter und Zauberpflanzen zwischen Haustür und Gartentor. München: AT.

Tetzner, Reiner / Wittmeyer, Uwe (2003): Griechische Götter- und Heldensagen. Nach den Quellen neu erzählt. Mit Stammtafeln der Götter und Helden, Anmerkungen und Register. Stuttgart: Reclam.

Zerling, Clemens (2013): Lexikon der Pflanzensymbolik. Hrsg. von Wolfgang Bauer. 2. Aufl. Darmstadt: Synergia.

Garten der Pflaumenbäume in Kameido (Utagawa Hiroshige, 1797-1858)

 

„Wenn ich aufmerksam schaue, seh‘ ich die Nazuna an der Hecke blühen.“

[Haiku des japanischen Dichters Matsuo Bashō (1644-1694)]