Bellis perennis
„Auf unserer Wiese blühet was, leuchtet weiß im grünen Gras /
Es hat Blätter zart und fein, wird wohl ein Gänseblümchen sein.“
[Volksmund]
Diese ausdauernde Pflanzenart aus der Familie der Korbblütler ist wohl die bekannteste einheimische Wildblume überhaupt. Mit einer Wuchshöhe von vier bis zwanzig Zentimetern gehört das Gewächs zu den eher kleinen Wildkräutern. Das Gänseblümchen verfügt über ein kurzes aufrechtes Rhizom mit Wurzelstock, aus dem sich spatelförmige Laubblätter in Form einer dichten, erdnahen Rosette entfalten, die an das frische Grün der Rapunzel erinnert. Jede dieser Blattrosetten bringt vom zeitigen Frühjahr bis zum späten Herbst ununterbrochen blattlose Blütenschäfte hervor. Bei der vermeintlichen weißstrahligen Blüte handelt es sich genaugenommen um eine Scheinblüte, die in ihrer Mitte rund einhundert goldfarbene zwittrige Röhrenblüten beherbergt. Aufgrund seines Heliotropismus richtet sich das Blütenkörbchen nach dem Sonnenstand aus und schließt sich des Nachts oder bei schlechtem Wetter. Bellis perennis, was soviel heisst wie „ausdauernde Schöne“ ist fast überall dort anzutreffen, wo es kurz gemähte und nährstoffreiche Rasen-, Wiesen- und Weideflächen gibt. Ursprünglich stammt die Art ebenso wie die übrigen Vertreter der Gattung Bellis aus dem Mittelmeerraum. Es handelt sich bei ihr um einen typischen Archäophyten, so werden Pflanzenarten bezeichnet, die sich als Kulturfolger vor 1492 (dem Jahr der europäischen Wiederentdeckung Amerikas durch den italienischen Seefahrer Christoph Kolumbus) in neue Gebiete ausbreiteten. Das Gänseblümchen drang in grauer Vorzeit durch die zunehmende Wiesen- und Weidewirtschaft der sesshaft werdenden Menschen des Neolithikums nach Mittel- und Nordeuropa vor. Mittlerweile findet sich die kleine Blume sogar im fernen Übersee, etwa in Nordamerika und Neuseeland.
Mythos
Mancherorten heisst es, wer im Frühjahr die ersten Gänseblümchen verspeise, die er in der wiedererwachten Natur erblickt, werde den Rest des Jahres von Krankheiten verschont bleiben. Bereits Plinius der Ältere schreibt von dieser Praxis, die bis in die jüngste Vergangenheit verbürgt ist.[1] Im Erzgebirge pflückten Magenkranke die Blüten direkt mit dem Mund gegen ihre Beschwerden. Auch für andere Gegenden ist diese Praxis überliefert. Indem man die Pflanze nicht in gewohnter Weise mit den Händen brach, sollte deren (Zauber-) Kraft erhalten bleiben.[2] Auch der Zeitpunkt der Ernte war für unsere Vorfahren bedeutsam. Gemäß den Vorstellungen des Analogiezaubers sind Mittagszeit, zunehmender Mond, Vollmond, Längerwerden der Tage (Frühling), Sommersonnenwende, auflaufendes Wasser und Flut ideal für das Sammeln von Kräutern. Denn zu diesen Zeiten wirkt die Zunahme beziehungsweise der Scheitelpunkt der Umgebungsenergie stärkend auf die Gewächse und ihre Wirkkraft. Diesem Konzept liegt die in vielen Kulturen der Welt verbreitete Anschauung zugrunde, dass sich Mikro- und Makrokosmos entsprechen.[3] Bezogen auf das Gänseblümchen nahm man beispielsweise vielerorts an, dass Kinder nach ihrem Genuss nicht mehr wachsen würden. Eine Sage aus Irland berichtet von der Fee Milkah, die dem Kind des Königs zu diesem Zweck Gänseblümchenspeise verabreichte.[4] Wie viele andere Korbblütler wurde das Gänseblümchen früher als Orakelpflanze verwendet. Reste dieses alten Rituals finden sich noch heute im eher scherzhaft verstandenen Abzupfen der äußeren Scheinblütenblätter durch Verliebte, die sich der Gegenliebe des geliebten Menschen nicht gewiß sind – „…liebt mich, liebt mich nicht, liebt mich…“. Oder man wirft eine Handvoll in die Höhe, um sie mit dem Handrücken wieder aufzufangen. Die aufgefangenen Blüten bestimmen die Anzahl der Kinder, die man dereinst bekommen wird.
Ihr ausgesprochener Heliotropismus und ihre dem Tagesgestirn ähnelnde Gestalt hat die Menschen sicher bereits früh veranlasst, die kleine Blume in Beziehung zur Sonne zu setzen. Stets richtet sie ihr zartes Köpfchen in Richtung des Zentrums unseres Planetensystems, und während der Nacht schließt sich ihr goldenes, weißumstrahltes Antlitz vollständig. Sobald dann der erste Sonnenstrahl die Pflanze am Morgen berührt, öffnet sie sich wieder und folgt Helios auf seiner Himmelsbahn. Im nördlichen Europa, wo die Himmel zumeist von Wolken verhangen sind, erschien das Gänseblümchen unseren Vorfahren gleichsam als Prophet des germanischen Sonnengottes Balder. Deshalb wurde das Gewächs im alten Skandinavien auch als Balders Braue bezeichnet. Auch der englische Pflanzenname verweist auf den solaren Bezug der Pflanze, denn „Daisy“ ist als Kurzform für „Day`s eye“ zu verstehen.[5] Ein überaus interessanter Zusammenhang scheint auch zwischen dem volkstümlichen deutschen Namen der Pflanze und der Sonnenbahn im Jahreskreis zu bestehen. „Wildgänse rauschen durch die Nacht / Mit schrillem Schrei nach Norden“, heißt es in einem Gedicht von Walter Flex aus dem Jahr 1916. Bei näherer Betrachtung fällt es einem wie Schuppen von den Augen. Ja, die alljährliche Migration der Wildgänse. Im Herbst verlassen die Vögel die nördlichen Gestade, um im lichten Süden zu überwintern. Der Zyklus ihrer Nordsüd-Wanderung entspricht der Vegetationsphase, wie er sich auch im eingangs beschriebenen Mythos vom Raub der Persephone durch Hades findet. Sind die Gänse fort, ruht das Wachstum der Pflanzenwelt. Kehren sie im Frühjahr mit zunehmender Tageslänge wieder, beginnt es im Norden zu grünen und zu blühen. Wildgans und Gänseblümchen sind ihrem Wesen nach beide eng verbunden mit dem Lauf der Sonne.[6]
Auch Hans Christian Andersen macht das unscheinbare Gänseblümchen zur Hauptfigur eines seiner Kunstmärchen. Bei ihm ist es allerdings eine bemitleidenswerte kleine Pflanze ohne die Heil- und Strahlkraft, die ihm der Volksglaube zuerkennt: „Draußen auf dem Lande, dicht am Wege, lag ein Landhaus; du hast es gewiß selbst schon einmal gesehen! Davor liegt ein kleines Gärtchen mit Blumen und einem Zaun, der gestrichen ist. Dicht dabei am Graben, mitten in dem herrlichen grünen Grase, wuchs ein kleines Gänseblümchen. Die Sonne schien ebenso warm und schön darauf herab, wie auf die großen, reichen Prachtblumen im Garten, und deshalb wuchs es von Stunde zu Stunde. Eines Morgens stand es entfaltet da mit seinen kleinen, weißen Blättern, die wie Strahlen rings um die kleine gelbe Sonne in der Mitte sitzen. Es dachte gar nicht daran, daß kein Mensch es dort im Grase sah und daß es nur ein armes, verachtetes Blümchen sei: nein, es war froh und wandte sich der warmen Sonne entgegen, sah zu ihr auf und horchte auf die Lerche, die in den Lüften sang.“[7]
Kost
Die Röhrenblüten sind reich an ätherischen Ölen, Saponinen, Gerb- und Bitterstoffen. Neuere Studien haben erwiesen, dass die Pflanze über antimikrobielle und cholesterinsenkende Inhaltsstoffe verfügt. In der Volksmedizin verwendete man die Blüten traditionell gegen Hautkrankheiten, Kopfschmerzen und Husten. Übrigens war das Gänseblümchen die Heilpflanze des Jahres 2017. Auch als Wildgemüse lässt sich die unscheinbare Pflanze vortrefflich verwenden. Blätter und (Schein-) Blüten sind willkommene Beigaben für einen Blattsalat, der dadurch nicht nur visuell aufgewertet wird. Das Gänseblümchen hat ein bitterfrisches Aroma, das kulinarisch vielseitig eingesetzt werden kann. So peppen die gold-weißen Blütenkörbchen den weiter oben beschriebenen Brennnessel-Spinat auf. Zusammen mit Salbei kann man die Blüten auch zu einem würzigen Kräuteressig verarbeiten. Auch Kräuterbutter lässt sich aus Gänseblümchen herstellen. Ein besonderes Geschmackserlebnis ist eine Gänseblümchen-Brennnessel-Gemüsesuppe. Hierzu kocht man fünf Kartoffeln, drei Möhren und zwei Zwiebeln gemeinsam mit achtzig Gramm Gänseblümchen (Blätter und Blütenkörbchen) sowie achtzig Gramm jungen Brennnesseltrieben in einem Liter Wasser. Anschließend wird das Ganze püriert und mit Salz abgeschmeckt. Eine Handvoll Blüten darübergestreut geben dem Gericht einen märchenhaften Anblick.
Welf-Gerrit Otto
Anmerkungen
[1] Vgl. Bächtold-Stäubli 2008, III: 158.
[2] Zu vorangegangenen und nachfolgenden Beispielen aus dem Volksglauben vgl. (wenn nicht anders ausgewiesen) Bächtold-Stäubli 2008, V: 1861f.
[3] Vgl. Mörschel 1993.
[4] Vgl. Zerling 2013: 90.
[5] Vgl. Storl 2007: 194.
[6] Vgl. Storl 2007: 197f.