Die ursprüngliche Wohlstandsgesellschaft: Jäger- und Sammler

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„Wir haben nichts dazugelernt“ [Pablo Picasso beim Betrachten der steinzeitlichen Höhlenmalereien von Lascaux], Grafik: Paläolithikum (Otto 2019)

Menschliche Wirtschaftsweisen sind älter als unsere Spezies. Das will erklärt sein: Homo sapiens, der denkende Mensch, ist die einzige noch heute existierende Art der Gattung Homo. Auch wir gehören dieser Art an, welche streng zoologisch zur Unterordnung der Trockennasenprimaten und Familie der Menschenaffen geschlagen wird. Erst vor etwa dreihunderttausend Jahren erscheint der Homo sapiens in Afrika auf der Bildfläche und besiedelt von dort in verschiedenen Migrationswellen fast den gesamten Planeten. Der biologisch moderne Mensch trifft dabei auf andere Menschenarten, die sich wie er aus Homo erectus entwickelt und bereits vor ihm Afrika verlassen hatten. In Europa war dies beispielsweise der Neandertaler. Die Gattung Mensch ist demnach weit älter als Homo sapiens. Man geht derzeit von etwa zweieinhalb Millionen Jahren aus. Anatomische Merkmale und mitunter auch der Nachweis von Werkzeuggebrauch spielen eine maßgebliche Rolle, ab welchem Entwicklungsstand von einem Menschen die Rede sein kann.

Hackwerkzeug aus der Altsteinzeit
(Bildquelle: José-Manuel Benito Álvarez)

Als früheste Epoche der Menschheitsgeschichte gilt uns die Steinzeit. Bereits 1836 hatte der dänische Altertumsforscher Christian Jürgensen Thomsen das auch heute noch in der populärwissenschaftlichen Geschichtsforschung gebräuchliche Dreiperiodensystem eingeführt – die zugegebenermaßen recht grobe Unterteilung in Stein-, Bronze- und Eisenzeit. Eine Gliederung verschiedener Zeitalter nach dem jeweils bevorzugten Werkstoff für alltägliche Gebrauchsgegenstände erscheint sinnig. Allerdings hat das System bis heute zahlreiche weitere Untergliederungen erfahren. Auch außerhalb Europas ist es nicht anwendbar. In Afrika beispielsweise folgte auf die Steinzeit vielerorts direkt die Eisenzeit.[1] Der Beginn der Steinzeit jedenfalls wird als ein wichtiger Schritt der kulturellen Menschwerdung definiert. Vor etwa zweieinhalb Millionen Jahren beginnen unsere Vorfahren Werkzeug herzustellen und zu nutzen. Lange Zeit galt der Gebrauch von Werkzeug als wichtigstes Unterscheidungskriterium zwischen Mensch und Tier – bis die britische Verhaltensforscherin Jane Goodall 1964 nachweisen konnte, dass auch Schimpansen Werkzeuge verwenden.[2]

Die Wirtschaftsweise unserer Vorfahren bleibt über Jahrmillionen weitgehend konstant. Natürlich gab es regionale Unterschiede, doch die Gemeinsamkeiten überwogen global. In kleinen Gruppen ziehen die Menschen umher und leben von der Jagd, vom Fischfang und vom Sammeln. Im eiszeitlichen Europa übt man sich im Paläolithikum, der Altsteinzeit, vor allem in der gemeinsamen Großwildjagd. Mammuts und Wollnashörner bevölkern die ausgedehnten Kältesteppen des Kontinents. Bei Jagdglück versprechen die Leiber der gigantischen Tiere reichhaltige Speise und Werkstoff für Gerätschaften. Als das Klima am Ende der letzten Eiszeit dann zusehends wärmer wird, verändert sich allmählich auch die Landschaft. Die gewaltigen Gletscher des Weichsel-Glazials, welche riesige Steinblöcke aus Skandinavien in unsere Gegend transportiert hatten, die auch heute noch mancherorts zu bestaunen sind, weichen ausgedehnten Wäldern und Moorlandschaften. Damit ändert sich auch die Wirtschaftsweise. Im Mesolithikum, wie man jene Epoche der Mittelsteinzeit heute bezeichnet, stellen die Menschen kleineren Tieren im Dickicht der Urwälder nach und weiteten den Fischfang aus. Ansonsten bleibt allerdings alles beim Alten. Man lebt auch weiterhin als Jäger und Sammler.

Steinzeitfertigkeiten auf einem Gemälde von Viktor Mikhailovich Vasnetsov, um 1883

Nun haben wir heutigentags, denken wir an die frühe Steinzeit, eher mitleiderregende Bilder vor Augen – von haarigen affengestaltigen Grobianen, die im Schweiße ihres ungestalten Angesichts, den Elementen und wilden Tieren ausgesetzt, ein kümmerliches und kurzlebiges Dasein im Dreck fristen. Dass das nicht unbedingt der Realität entspricht, zeigen zahlreiche archäologische Funde und vergleichende ethnologische Studien, die bei heutigen Jäger- und Sammlerkulturen gemacht wurden. Abgesehen davon, dass die Menschen der Steinzeit uns körperlich weitgehend glichen, verfügten sie neben einem umfangreichen technischen Wissen durchaus auch über philosophische und spirituelle Feinfühligkeit, wie beispielsweise anhand ausdifferenzierter Bestattungsriten zu ersehen ist. Auch existiert bereits in grauer Vorzeit Altruismus und Empathie. So grub man etwa vor wenigen Jahren im Norden Israels das guterhaltene Skelett eines Kindes aus, das dort vor etwa hunderttausend Jahren gelebt hatte. Es zeigte sich, dass der junge Mensch durch einen Unfall erhebliche körperliche und kognitive Schäden erlitten hatte und daher in vielfacher Weise auf fremde Hilfe angewiesen war. Trotzdem war das Kind noch lange Jahre Teil der sorgenden Gemeinschaft und wurde nach seinem Tode liebevoll beerdigt.[3]

Auch Musik, Malerei und andere Künste sind Errungenschaften der Altsteinzeit – und zwar nicht als tumbes Geschmiere oder primitives Getrommel und Gegröhle, sondern bereits voll entfaltet und der Gegenwart in jeder Hinsicht ebenbürtig. Davon zeugen beispielsweise die rund dreißigtausend Jahre alten Malereien der südfranzösischen Chauvet-Höhle oder die unlängst in der Schwäbischen Alb entdeckte älteste Flöte der Welt, die das Alter der Chauvet-Höhlenmalerei noch um fünftausend Jahre übertrifft. Die Gesellschaften des Paläolithikums und des Mesolithikums waren keineswegs Naturvölker im Sinne kulturloser Primitivität. Alles was den Menschen aus heutiger Sicht zum Menschen macht, war bereits damals vorhanden. Wildbeuterkulturen – also Jäger, Fischer und Sammler – werden als „aneignende Kulturen“ bezeichnet, im Gegensatz zu sogenannten „erzeugenden Kulturen“, beispielsweise Viehzüchter oder Ackerbauern. Auch heute leben auf unserer Erde noch einige Wildbeuterkulturen, vornehmlich in den unzugänglichen Tiefen nebelverhangener Regenwälder in Afrika, Südamerika und Papua-Neuguinea.[4] Jagd- und Sammelwirtschaft als vorrangige Erwerbsquelle spielt noch heute zumindest bei rund dreieinhalb Millionen Menschen weltweit eine wichtige Rolle.[5]

Andamaner bei der Schildkrötenjagd, um 1900
(Bildquelle: Bourne and Shepherd: Smithsonian Institution, National Anthropological Archives)

Auffällig ist, dass Jäger und Sammler kein schlechtes Leben führen. Die Lebenserwartung heutiger Wildbeuter entspricht ungefähr der unsrigen.[6] Erst mit dem Aufkommen der Landwirtschaft vor rund zwölftausend Jahren nimmt das durchschnittliche Sterbealter der Erwachsenen sowie die körperliche Fitneß der Menschen rapide ab. Das belegen archäologische Funde. Ursächlich wird der enge Umgang der Leute mit ihrem Vieh gewesen sein sowie veränderte Lebensgewohnheiten: Die Leute schlafen gemeinsam mit ihren Nutztieren in stickigen Behausungen, roden und hacken ihren Acker gebeugten Rückens, anstatt aufrecht und im Dauerlauf dem Wild nachzustellen. Infektionskrankheiten breiten sich aus und unnatürliche Ernährungsweisen, etwa der Verzehr von Milchprodukten, werden zur Gewohnheit. So sollen die Masern beispielsweise auf eine Rinderkrankheit zurückzuführen sein, die sich nach dem Übergang zur Landwirtschaft auch unter den Menschen ausbreitete.[7]

Die Wirtschaftsform der Jäger und Sammler entspricht dem Wesen des Menschen in höherem Maße als alle historisch nachfolgenden Wirtschaftsformen. Für gewöhnlich leidet man keinen Mangel. Selbst Wildbeuter in kargen Naturräumen müssen im Vergleich zu heutigen Erwerbstätigen weit weniger Zeit der Erwerbsarbeit widmen. Nur etwa zwei Stunden täglich wenden beispielsweise die Mitglieder der südafrikanische Ethnie San, früher nannte man diese Menschen Buschleute, für Sammel- und Jagdtätigkeiten auf. Zählt man die Zeit der Nahrungsmittelzubereitung, Kinderbetreuung und Gebrauchsgüterherstellung hinzu, kommt man gerade einmal auf sechs Stunden.[8] Der Rest ist Freizeit, Muße, Spiel, Nachsinnen über Wesen und Gestalt der Welt, Sinn unseres Daseins, Ausprobieren neuer Techniken und Erfindungen, Musizieren und Ausdenken und Erzählen von Geschichten sowie vieles mehr – Tätigkeiten also, die uns als Menschen weiterbringen, beflügeln, über uns hinauswachsen lassen, anstatt uns in einem stupiden Alltagstrott zu lähmen. Nun überlegen Sie einmal, wieviel Zeit Ihnen nach einem achtstündigen Arbeitstag, nachdem Sie eingekauft, die Wäsche gewaschen, Ihre Kinder zu Bett gebracht haben für derlei noch bleibt – wenn Sie dann nicht ohnehin vor dem Fernseher versacken. Aus genannten Gründen werden Wildbeuterkulturen von dem Anthropologen Marshall Sahlins auch als „ursprüngliche Wohlstandsgesellschaften“ bezeichnet.[9]

Darüber hinaus sind die Hierarchien innerhalb von Jäger- und Sammlergruppen weitestgehend flach. Anders als in der Landwirtschaft spielt Privateigentum nur eine marginale Rolle und bezieht sich vorrangig auf Gegenstände des alltäglichen Gebrauchs – etwa Jagdbogen oder Steinmesser. Reichtum und Macht wird nicht angehäuft. Friedrich Engels sprach in diesem Zusammenhang übrigens von einem steinzeitlichen „Urkommunismus“,[10] was wohl etwas übertrieben ist. Denn selbst Gruppen, die keinen Privatbesitz kennen und deren Mitglieder alle derselben Tätigkeit nachgehen, bringen Individuen hervor, deren Wort mehr wiegt als das der anderen. Entweder, weil sie über mehr Erfahrung und Umsicht verfügen, oder einfach, weil sie stärker gebaut sind oder ihr Maul weiter aufreißen als die übrigen.

Goldenes Zeitalter (Lucas Cranach d. Ä., um 1530)

Gleichwohl lässt sich nicht von der Hand weisen, dass Wildbeuterkulturen Macht nicht in dem Maße auf bestimmte Personen und Personengruppen akkumulieren, wie dies in anderen Gesellschaftsformen üblich ist. Möglicherweise handelt es sich bei der Alt- und Mittelsteinzeit also wirklich um das „goldene Zeitalter“, von dem bereits der griechische Dichter Hesiod im siebten vorchristlichen Jahrhundert zu berichten wußte. Die Menschen hätten in Urzeiten, als noch der Titan Kronos, Vater des späteren Obergottes Zeus, die Geschicke der Welt bestimmte, in sorglosem Wohlstand und Frieden gelebt, schreibt Hesiod. Plagen, Kriege und Seuchen seien unbekannt gewesen und Nahrung gab es im Überfluß, ohne dass die Menschen dafür anstrengender Landarbeit hätten nachgehen müssen.

Das „goldene Geschlecht“, wie Hesiod jene Urmenschen bezeichnete, wäre mit den Göttern befreundet gewesen. Man alterte in jenen Zeiten nicht, sondern sank in einen behüteten Schlaf, wenn es ans Sterben kam. Zeus verwandelte jene Menschen nach ihrem Tod in wohlwollende Geister, die uns noch heute beistehen und Wünsche erfüllen können.[11] Der Mythos vom goldenen Zeitalter wurde seit Hesiod vielfach rezipiert und künstlerisch umgesetzt. Wer weiß, vielleicht gehen auch unsere Geschichten vom Schlaraffenland auf jene fast dreitausend Jahre alte Erzählung zurück, die möglicherweise eine Erinnerung an noch frühere Zeiten ist.

In der Altsteinzeit jedenfalls leben nur wenige Menschen auf unserer Erde. Analysen der mitochondrialen DNA des modernen Menschen haben ergeben, dass es vor etwa siebzigtausend Jahren weltweit nur etwa tausend bis zehntausend Individuen unserer Art gegeben haben muss von denen alle heutigen Menschen abstammen. Laut der Toba-Katastrophentheorie des Anthropologen Stanley Ambrose sei ein gewaltiger Vulkanausbruch auf der indonesischen Insel Sumatra, dem eine extreme Kälteperiode folgte, ursächlich gewesen für die geringe Weltbevölkerung zu dieser Zeit.[12] Insgesamt werden die ständigen Klimaschwankungen des Pleistozäns und die damit verbundenen häufigen Eiszeiten nicht unbedingt zu einer raschen Ausbreitung unserer Vorfahren geführt haben.

Die Wirtschaftsweise als Jäger und Sammler kann zugegebenermaßen auch nur recht wenige Menschen ernähren. Um zu überleben, würde eine fünfköpfige Familie bei dieser Art der Subsistenz in unseren Breiten laut einer Studie dafür ein Waldgebiet von etwa fünf Quadratkilometern benötigen. Betriebe man Viehzucht, könnten auf dem gleichen Areal, das dann natürlich vorher gerodet werden müßte, etwa fünfunddreißig Menschen ihr Auskommen finden. Bei Ackerbau wären es rund tausend.[13] Dass wir alle wieder Jäger und Sammler werden, vorausgesetzt, wir wollen das überhaupt, ist angesichts einer heutigen Weltpopulation von weit mehr als sieben Milliarden deshalb utopisch. Aber einige werden diesen Weg in Zukunft vielleicht weiterhin gehen. Es gibt sie ja noch in den unzugänglichen Regionen unseres grünen Planeten, die Wildbeuter, das Goldene Geschlecht.

Welf-Gerrit Otto

Später: Sisyphos 2 – Die Vertreibung aus dem Paradies

Hörtipps zur Lektüre

Anmerkungen

[1] Vgl. Hansen 2001: 10ff.

[2] Vgl. Goodall 1964: 1264ff.

[3] Vgl. Coqueugniot et al. 2014.

[4] Mitunter hausen Wildbeuter durchaus auch zivilisationsnah. Die kriegerischen Sentinelesen, von denen man alle paar Jahre hört, wenn sie mal wieder einen unbedachten Touristen oder Fischer aufgeschlitzt haben, leben beispielsweise auf einer kleinen Insel im vielbefahrenen Golf von Bengalen im Zustand steinzeitlicher Ursprünglichkeit. Vgl. etwa https://www.theguardian.com/world/2018/nov/21/american-killed-isolated-indian-tribe-north-sentinel-island (Stand 25.11.2018).

[5] Vgl. Schweitzer / Biesele / Hitchcock 2006: 4ff.

[6] Vgl. Gurven / Kaplan 2007: 349.

[7] Vgl. Wells 2003: 234ff.

[8] Vgl. Harris 1989: 146f.

[9] Vgl. Sahlins 1968: 58ff.

[10] Vgl. Engels 1884.

[11] Vgl. Hesiod: Werke und Tage 109-126.

[12] Vgl. Ambrose 1998.

[13] Vgl. Brede 2000: 21.