Rubus sectio Rubus

„Life was much easier when apple and blackberry were just fruits.“

[T-Shirt-Spruch, gesehen in Berlin-Prenzlauer Berg, 2018]

Brombeere (Rubus sectio Rubus), Wiener Dioscorides, um 512 n. Chr.

Ihre Vielfalt ist beträchtlich. Mehr als zweitausend Arten zählt die Sektion Brombeere aus der Pflanzengattung Rubus allein in Europa. Weltweit sind die Vertreter dieser Abteilung des Pflanzenreichs Legion. Es handelt sich bei den Brombeer-Arten unserer Region sowohl um wintergrüne als auch um winterkahle Sträucher, die allesamt der Familie der Rosengewächse zugerechnet werden. Charakteristisch sind die schnell wachsenden Ranken, die mit Stacheln bewehrt, innerhalb kürzester Zeit eine undurchdringliche Wildnis hervorbringen. Allerdings ist den einzelnen Zweigen im Gegensatz zur ausdauernden Pflanze nur eine zweijährige Lebensdauer beschieden. Nach ihrer Überwinterung bringen die Ranken ausschließlich Blüten und anschließend Beeren hervor und machen im Herbst frischem Grün Platz. Die gezähnten Laubblätter der Brombeere sind wechselständig angeordnet und in Blattstiel und Blattspreit gegliedert. Im Frühling und frühen Sommer bilden sich die traubigen oder rispigen Blütenstände, deren zwittrige Einzelblüten von radiärsymmetrischer Gestalt und heller Farbe sind. Die blauschwarzen Früchte reifen im Spätsommer. Botanisch betrachtet handelt es sich bei ihnen allerdings keineswegs um Beeren, sondern um Sammelsteinfrüchte. Brombeeren sind Spreizklimmer, die mittels ihrer Stacheln viele Meter in die Höhe klettern, wenn sich ihnen dazu eine entsprechende Gelegenheit bietet, etwa in Form von Zäunen, Mauern oder Gehölzen. Brombeeren finden sich weltweit in den gemäßigten Zonen der Nordhalbkugel. Sie bevorzugen sonnige und halbschattige Lagen und sind hinsichtlich des Untergrunds nicht allzu wählerisch.

 

Mythos

Tat das weh. Schon wieder hatte sich eine der stacheligen Ranken an meinem Hosenbein verfangen. Ihre Spitzen drangen sogar durch festen Jeansstoff und hinterließen schmerzhafte Wunden auf meiner Haut. Doch es war der kürzeste Weg in den Garten meiner Tante, der an dieser Seite mit einem Dickicht aus wilden Brombeeren umwuchert war, das dem Schloss von Dornröschen alle Ehre gemacht hätte. Als kleiner Junge kroch ich häufig durch den engen Tunnel, der sich aus mir unerklärlichen Gründen bodennah im Gestrüpp gebildet hatte und zumindest für Kinder ein mühsames Durchkommen ermöglichte. Die Brombeere, deren Name etymologisch auf ihre wehrhaften Stacheln zurückgeht, war in früheren Zeiten eng mit jener Praxis verbunden, die ich, ohne dass es mir damals bewusst gewesen wäre, als Kind spielerisch nachvollzogen hatte. In Nord- und Mitteleuropa glaubte man nämlich, dass das Durchkriechen von Brombeerranken alle möglichen Formen von Schaden abwehren könne. Je nachdem zu welchem Zeitpunkt man es praktizierte, wurde es gegen verschiedene Krankheiten und Verzauberungen angewendet.[1]

„Durchkriechriten“ sind weltweit in den unterschiedlichsten kultischen Kontexten verbreitet. In der Völkerkunde kennt man diesen Brauch beispielsweise im Rahmen von Initiationsriten. Die Initianden zwängen sich beispielsweise durch schmale Erdlöcher, Labyrinthe, Lochsteine oder werden symbolisch von Ungeheuern verschlungen, um anschließend als vollwertige Mitglieder der Gemeinschaft wiedergeboren zu werden.[2] Am Sepikfluss in Papua-Neuguinea durchlaufen die jungen Männer mitunter noch heute ein solches komplexes Ritual. Dabei werden die Anwärter im übertragenden Sinne vom mythischen Krokodil, das dereinst die Welt erschaffen haben soll, verschlungen und wiedergeboren. Eine durchaus schmerzhafte Prozedur. Denn so als streiften stachelige Brombeerranken über die nackten Leiber, werden den Initianden bei der Skarifizierung tiefe Wunden beigebracht, welche die blutigen Bisswunden des kosmogonischen Urreptils darstellen sollen. Häufig ist die Öffnung der Initiationshütte dem Rachen beziehungsweise der Vulva des Ungeheuers nachempfunden.[3] In Europa finden sich sogenannte prähistorische Durchkriechsteine, die bei ihrer Entstehung vor tausenden von Jahren möglicherweise einem ähnlichen Zweck gedient haben könnten. Heute ist die ursprüngliche Verwendung allerdings lange schon vergessen. Ein Nachhall findet sich in den auch für den Brombeerbusch überlieferten Erzählungen, wonach das Durchkriechen der Fruchtbarkeit und dem Abstreifen von Krankheiten dienen würde.[4]

In der Kunstgeschichte Europas wird Jesus Christus häufig mit einer Dornenkrone aus Brombeerranken abgebildet, und auch Maria ist die Pflanze auf vielen Gemälden als Attribut von Schmerz und Süße beigesellt.[5] Neben Heilung und schmerzhafter Wiedergeburt beziehungsweise Auferstehung wird der Brombeerstrauch aufgrund seiner ausgesprochenen Vitalität auch vielfach mit der Thematik überbordender Wuchskraft in Beziehung gebracht. Im hessischen Ort Wanfried beispielsweise wird der alljährlich stattfindende Festumzug beim Schützenfest vom sogenannten Brombeermann angeführt. Zurückgehen soll der Brauch auf einen Erlass des Landgrafen von Hessen-Kassel aus dem Jahr 1608. Die Wanfrieder wurden darin verpflichtet, jedes Jahr eine bestimmte Menge Brombeeren bei ihrem Landesherrn abzuliefern. Auch ein Märchen rankt sich um den hessischen Brombeermann. Es veranschaulicht die große vegetative Kraft der Brombeerranken. Gleich Sisyphos wird einem bei Frau Holle in Ungnade gefallenen Zwerg eine schier unlösbare Aufgabe aufgebürdet: „Eines Tages saß Frau Holle auf einer sonnigen Wiese am Berghang. Die Elfen und Zwerge tollten ausgelassen um sie herum, und ein besonders vorwitziger Zwerg spielte mit ihrer Perlenkette. Im wilden Spiel geschah es dann, daß die Kette zerriss, und die Perlen kullerten auf der Wiese den Hang hinunter. Frau Holle war darüber wütend und sprach: ‚Die Perlen sollen sich in Brombeeren verwandeln, und du musst sie alle bis zur letzten Beere in einer Nacht pflücken, bevor das Käuzchen in der Morgendämmerung dreimal ruft.‘ Und so geschah es. Da wo die Perlen zu liegen kamen, wuchsen rasch schöne prächtige Brombeersträucher und der Zwerg machte sich so gleich an die Arbeit. Mit einer Kiepe auf dem Rücken und einem Stab in der Hand, mit dem er sich am Hang abstützen konnte, fing er an zu pflücken. Die ganze Nacht hindurch bis zur Morgendämmerung. Er erblickte schon die letzte Brombeere, da rief das Käuzchen zum ersten Mal. Er teilte mit dem Stab den Busch, um näher an die Brombeere zu kommen, da rief das Käuzchen ein zweites Mal. Nun reckte er sich und seine Fingerspitzen berührten fast schon die Brombeere, da rief das Käuzchen zum dritten Mal und wie durch Geisterhand war die Kiepe wieder leer und alle Brombeeren, die er schon gesammelt hatte, hingen wieder an den Sträuchern.“[6]

 

Kost

Am besten verspeist man die Früchte unverarbeitet. Sozusagen direkt vom Busch in den Mund. Rezepte für Marmeladen und Konfitüren gibt es massenweise. Kuchen und Gebäck läßt sich bekanntlich auch vortrefflich mit den aromatischen Beeren verfeinern. Wer Interesse hat, mag sich im Internet informieren. Ungewöhnlicher ist da schon die Verwendung der Brombeerblätter als Tee. Das Arzneimittel enthält Flavonoide, Gerbstoffe und Vitamin C und wirkt als Adstringens entzündungshemmend und blutstillend. Eingesetzt wird der Aufguss etwa bei Durchfallerkrankungen oder Entzündungen im Mund- und Rachenraum. Schwangeren wird der regelmäßige Genuss empfohlen, und auch als nikotinfreier Tabakersatz findet das Kraut Verwendung. Die Beeren lassen sich übrigens zu einem schmackhaften alkoholischen Getränk verarbeiten. Man vermische sechshundert Gramm püriertes Beerenobst mit der gleichen Menge Rohrzucker und gieße das Ganze mit einem Liter qualitativ hochwertigem und hochprozentigen Korn auf. Zwei Monate durchziehen lassen und anschließend filtern. Fertig ist der Brombeer-Schnaps für kalte Wintertage. Doch nicht nur als Kost sind Brombeeren attraktiv. Der frisch gepresste Beerensaft läßt sich ausgezeichnet auch als dauerhafter Farbstoff zum Malen, Zeichnen und Schreiben verwenden. Und aus den Ranken kann man Kränze für die Haustür oder als Zimmerschmuck fertigen – gerne auch zum Durchkriechen.

Welf-Gerrit Otto

 

Anmerkungen

[1] Vgl. Bächtold-Stäubli 2008, I: 1581f.

[2] Vgl. Dittmar 1954: 69.

[3] Vgl. Schmid/Schmid 1992.

[4] Kriegl 2015: 81.

[5] Vgl. Beuchert 2004: 45.

[6] Pippert 1979.

Verwendete Literatur