Das junggeglühte Männlein (KHM 147)

Ein Märchen der Brüder Grimm kulturkritisch gelesen

Das junggeglühte Männlein (Welf-G. Otto, 2017)

„Zur Zeit da unser Herr noch auf Erden gieng, kehrte er eines Abends mit dem heiligen Petrus bei einem Schmied ein und bekam willig Herberge. Nun geschahs, daß ein armer Bettelmann, von Alter und Gebrechen hart gedrückt, in dieses Haus kam und vom Schmied Almosen forderte. Deß erbarmte sich Petrus und sprach „Herr und Meister, so dirs gefällt, heil ihm doch seine Plage, daß er sich selbst sein Brot möge gewinnen.“ Sanftmüthig sprach der Herr „Schmied, leih mir deine Esse und lege mir Kohlen an, so will ich den alten kranken Mann zu dieser Zeit verjüngen.“ Der Schmied war ganz bereit, und St. Petrus zog die Bälge, und als das Kohlenfeuer auffunkte, groß und hoch, nahm unser Herr das alte Männlein, schobs in die Esse, mitten ins rothe Feuer, daß es drin glühte wie ein Rosenstock, und Gott lobte mit lauter Stimme.

Nachdem trat der Herr zum Löschtrog, zog das glühende Männlein hinein, daß das Wasser über ihn zusammenschlug, und nachdem ers fein sittig abgekühlt, gab er ihm seinen Segen: siehe, zuhand sprang das Männlein heraus, zart, gerade, gesund, und wie von zwanzig Jahren. Der Schmied, der eben und genau zugesehen hatte, lud sie alle zum Nachtmahl. Er hatte aber eine alte halbblinde bucklichte Schwieger die machte sich zum Jüngling hin und forschte ernstlich ob ihn das Feuer hart gebrennet habe. Nie sei ihm besser gewesen antwortete jener, er habe da in der Glut gesessen wie in einem kühlen Thau.

Was der Jüngling gesagt hatte, das klang die ganze Nacht in den Ohren der alten Frau, und als der Herr frühmorgens die Straße weiter gezogen war und dem Schmied wohl gedankt hatte, meinte dieser er könnte seine alte Schwieger auch jung machen, da er fein ordentlich alles mit angesehen habe, und es in seine Kunst schlage. Rief sie deshalb an, ob sie auch wie ein Mägdlein von achtzehn Jahren in Sprüngen daher wollte gehen. Sie sprach „von ganzem Herzen,“ weil es dem Jüngling auch so sanft angekommen war. Machte also der Schmied große Glut und stieß die Alte hinein, die sich hin und wieder bog und grausames Mordgeschrei anstimmte. „Sitz still, was schreist und hüpfst du, ich will erst weidlich zublasen.“ Zog damit die Bälge von neuem bis ihr alle Haderlumpen brannten. Das alte Weib schrie ohne Ruhe, und der Schmied dachte „Kunst geht nicht recht zu,“ nahm sie heraus und warf sie in den Löschtrog. Da schrie sie ganz überlaut, daß es droben im Haus die Schmiedin und ihre Schnur[1] hörten: die liefen beide die Stiegen herab, und sahen die Alte heulend und maulend ganz zusammen geschnurrt im Trog liegen, das Angesicht gerunzelt, gefaltet und ungeschaffen. Darob sich die zwei, die beide mit Kindern giengen, so entsetzten, daß sie noch dieselbe Nacht zwei Junge gebaren, die waren nicht wie Menschen geschaffen, sondern wie Affen, liefen zum Wald hinein; und von ihnen stammt das Geschlecht der Affen her.“

[Aus: Grimm, Jacob und Wilhelm (1857): Kinder und Hausmärchen gesammelt durch die Brüder Grimm. Zweiter Band. Große Ausgabe. Siebente Auflage. Göttingen: Verlag der Dieterichschen Buchhandlung. S. 273-274]

Mowgli made leader of the Bandar Log (John Charles Dollman, 1851-1934)

Forever young?

Jugend und Schönheit mittels rotglühendem Schmiedefeuer und Löschtrog. [2] Statt mit Botox, Skalpell und Yoga wird im Märchen „Das junggeglühte Männlein“ weitaus drastischer zur Tat geschritten. Einmal erfolgreich, ein anderes Mal desaströs. Derart, dass aus Menschenföten Affenbrut wird. Es kommt eben immer darauf an, wer an der Esse steht und den Alten einheizt.

Bereits im zweiten Band der Erstausgabe von 1815 findet sich die kurze eindrückliche Geschichte, die bis zur Ausgabe von letzter Hand aus dem Jahr 1857 ohne wesentliche Änderungen ein ums andere Mal abgedruckt wird. Der Nürnberger Dichter und Schuhmacher Hans Sachs wird im Anhang der Märchensammlung von den Grimms als Urheber angegeben. Das Märchen geht auf seinen Versschwank „Der affen ursprueng“ von 1562 zurück. Im Kern handelt es sich beim Original um eine Ätiologie, also um eine mythische Erzählung, welche gegenwärtige Erscheinungsformen der Welt durch Ereignisse in der Vergangenheit erklären will. Das können Berge, Flüsse, Städte oder auch bestimmte Tiere sein: „Ein Doctor fraget ich der Maer, / Von wann die Affen kemen her, / Weil sie ohn vernunfft Thierlein wild / Sind, tragen doch samb menschlich bild; / Obs auch im Anfang wern erschaffen?“

Woher kommen die Affen, die dem Menschen so auffallend ähneln und doch ganz anders sind als er? Das ist die Ausgangsfrage des Schwanks, den die Grimms für ihre Kinder- und Hausmärchen mitunter wortwörtlich zitieren. Affen haben in der abendländischen Kulturgeschichte und Volksüberlieferung einen ausgesprochen schlechten Ruf. Das ist außerhalb Europas, vornehmlich dort, wo einem diese Tiere tagtäglich begegnen und man folglich ihre Intelligenz und ihren Gemeinschaftssinn unmittelbar erfährt, häufig nicht der Fall. So verehrt man etwa in Indien noch heute den affengestaltigen Gott Hanuman, einen gewitzten und loyalen Verbündeten von Rama, der siebten Inkarnation des hinduistischen Gottes Vishnu. Den alten Ägyptern galt der Pavian als heiliges Tier, das man mit Thot, der Gottheit der Wissenschaft und Weisheit in Verbindung brachte. Und die chinesische Astrologie beschreibt das Tierzeichen des Affen als geschickten, wendigen, etwas leichtlebigen Charakter. Vollkommen anders verhält es sich dagegen in Europa, wo man unseren nächsten Verwandten im Tierreich in früheren Tagen nur vom Hörensagen kannte.

Der Affe galt hierzulande lange Zeit als dreistes, trieb- und lasterhaftes Zerrbild des Menschen, als sein diabolisches Gegenüber sozusagen. Davon zeugen noch heute gebräuchliche Schimpfwörter, etwa „nachäffen“ oder „Lackaffe“. Der Volksglaube bewertete Affen mitunter als verwunschene Menschen. Und zu Lebzeiten von Hans Sachs symbolisierte das Buchtier die Sünde schlechthin. Affen und Teufel wurden nicht selten als identisch betrachtet.

The Temptation of Saint Anthony (John Charles Dollman, 1897)

Das verbreitete Darstellung des Affen als triebgesteuerter Chaot, der den Menschen nachäfft, wird deutlich in einer Fabel des griechischen Dichters Äsop: „Ein ägyptischer König, so wird berichtet, ließ einst Affen einen Waffentanz beibringen. Diese Tiere sind ja recht gelehrig in menschlichen Künsten, und so hatten sie sehr rasch begriffen und tanzten in echten Purpurkleidern und mit vorgebundenen Masken. Und das Schauspiel fand lange Zeit viel Beifall, bis ein witziger Zuschauer, der Nüsse im Bausch seines Gewandes verborgen hatte, diese in ihre Mitte warf. Die Affen das sehen und das Tanzen vergessen war eins. Sie wurden, was sie waren, Affen statt Waffentänzer, zerbrachen die Masken, zerrissen die Gewänder und balgten sich um die Früchte. Die Tanzgruppe war völlig aufgelöst, und das Theater dröhnte von dem Gelächter.“ Äsops Fabel erinnert an sogenannte Affentheater, erwerbsmäßige Tierausstellungen zu Belustigungszwecken, die sich insbesondere im 19. Jahrhundert großer Beliebtheit erfreuten. In ihnen mussten die angekleideten Tiere zum Amusement der Zuschauer menschliches Verhalten nachahmen.

Affentheater (Die Gartenlaube, 1871)

Neben dem Motiv der durch Schreck generierten Entmenschlichung, welche die groteske Verwandlung der Ungeborenen in Affengestalt zweifelsohne darstellt, geht es im Märchen sowie im Schwank aber in erster Linie um den Gegensatz von Alt und Jung: „Nun kam ein armer Bettelman / Hinein gangen an zweyen Krucken / Mit grawem haar und bogem rucken / Und mit dem alter hart beschwert, / Das Allmuß von dem Schmid begert. / Deß erbarmet sich Petrus fein / Und sprach: O Herr und Meister mein / Erbarm dich deß uralten Mann, / Heyl ihm sein plag, daß er mög gahn / Und sein brodt selber mög gewinnen.“

Die Geschichte zeichnet ein grausiges Bild vom Alter und seinen körperlichen Gebrechen. Im Mittelpunkt steht das Unvermögen des eigenständigen Auskommens angesichts zunehmender körperlicher Einschränkungen. Der alte Mensch ist auf Almosen angewiesen. Altersarmut war in früheren Zeiten besonders in den unterprivilegierten Bevölkerungsschichten ein ernstzunehmendes Problem. Vor allem für diejenigen, die nicht auf familiäre Unterstützung hoffen durften, bedeutete der Verlust der eigenen Arbeitskraft häufig das Ende. Betteln war oft der einzige Ausweg, der den Alten und Kranken noch blieb. Zwar setzten sich Klöster und Kirchen entsprechend des christlichen Gebots der Nächstenliebe bereits früh für die Bedürftigen ein, gaben ihnen Nahrung und Obdach, allein war diese Unterstützung insbesondere in Krisenzeiten nur ein Tropfen auf den heißen Stein.

Erst 1889 wurde im Deutschen Reich eine flächendeckende Rentenversicherung eingeführt. Die rasante Industrialisierung im 19. Jahrhundert hatte durch Landflucht und Urbanisierung dazu geführt, dass immer mehr Menschen aus dem sozialen Netz ihrer dörflichen und familiären Strukturen fielen und am Ende ihres Lebens bedürftig wurden. Otto von Bismarck erkannte die soziale Sprengkraft dieser Entwicklung. Doch weniger Menschenliebe als vielmehr politisches Kalkül trieben den Reichskanzler dazu, sich für die Rente stark zu machen. Indem Bismarck sich für die Rentenversicherung einsetzte, wollte er der seinerzeit erstarkenden Sozialdemokratie den Wind aus den Segeln nehmen.

Armut im Vormärz (Theodor Hosemann, 1840)

In den Tagen der Grimms war das alles allerdings noch Science-Fiction, obwohl sich die beschriebenen gesellschaftlichen Transformationsprozesse bereits bemerkbar machten. Massenverelendung und Pauperismus waren unerwünschte Begleiterscheinungen des Übergangs von der Stände- zur Industriegesellschaft. Vielerorts brachen die über Jahrhunderte praktizierten Absicherungssysteme der unteren Bevölkerungsgruppen zusammen. Langjährige Gewissheiten wurden nicht allein durch naturwissenschaftliche Errungenschaften und neuartige Techniken überwunden. Die Gesellschaft selbst war es, die ins Wanken geriet. Nimmt es da wunder, dass sich die Romantiker und mit Ihnen Jacob und Wilhelm Grimm einer vermeintlich verlässlichen und statischen Vergangenheit annahmen und diese nicht selten idealisierten und verklärten? Nicht zuletzt die Beschäftigung mit Märchen, Sagen und alten Volksbräuchen ist Ausdruck einer Sehnsucht nach Verlässlichkeit angesichts einer unübersichtlich gewordenen Welt.

Im Anhang der Erstausgabe des zweiten Bandes der Kinder- und Hausmärchen bemerken die Grimms, dass die Geschichte vom junggeglühten Männlein sie an den griechischen Mythos von der Zauberin Medea erinnere. Die Argonautensage erzählt vom Raub des Goldenen Vlies‘ durch Iason. Dabei wird der Held von der Königstochter Medea unterstützt. Der römische Schriftsteller Ovid berichtet, Medea habe ihre magischen Kräfte auch an Äson, dem greisen Vater Iasons erprobt:

„Schnell, wie sie solches gesehn, mit gezogenem Schwerte die Gurgel / Öffnet Medea dem Greis, und läßt das verjährete Blut aus, / Füllt dann wieder mit Saft; und sobald die Mischung Äson / Durch die Kehl‘ und die Wunde hineinsog, plötzlich verschimmert / Bart und greisendes Haar, und wallt in dunkelen Locken; / Runzel und Magerkeit flieht, der Wust und die Blässe verschwindet; / Voll von erneuetem Blut sind gedrängt die gehöhleten Adern; / Jugendlich schwelget der Wuchs. Der neugeschaffene Äson / Staunt, und fühlet sich ganz, wie einst vor dem vierzigsten Jahre.“

Abschied der Medea (Anselm Feuerbach, 1870)

Die „Cura Medeana“, also die Verjüngung alter Menschen durch junges Blut, wird noch in der heutigen Anti-Aging-Medizin praktiziert. Denn auch heutigentags ist der Wunsch nach ewiger Jugend ungebrochen. Angesichts vielfältiger gesellschaftlicher und individueller Problemszenarien, denen sich der Mensch ausgesetzt sieht, scheint dieses Begehren heute sogar besonders intensiv zu sein. Denn wie schon im Märchen vom jungegelühten Männlein bedeutet die Abnahme körperlicher Leistungsfähigkeit in den Gesellschaften der Gegenwart für viele den Verlust des selbständigen Broterwerbs und damit den sicheren Einstieg in die Altersarmut. Doch was ist dieses Anti-Aging eigentlich, das einen Ausweg aus der vermeintlichen Sackgasse des Alterns verspricht?

„Der Puls der Freude, der in uns schlägt, wenn wir zwanzig sind, wird träge. Unsre Glieder ermatten, unsre Sinne verkommen. Wir verfallen und werden häßliche Puppen, und die Erinnerungen an die Leidenschaften verfolgen uns, vor denen wir zurückschreckten, und an die köstlichen Versuchungen, denen zu erliegen wir nicht den Mut hatten. Jugend! Jugend! Es gibt gar nichts in der Welt als Jugend.“ Oscar Wildes Romanheld Dorian Gray kann und will nicht altern, denn die Jugend bedeutet ihm Fülle und Anerkennung, die es um jeden Preis zu bewahren gilt.

Alter wird gemäß des Anti-Agings als Defizit dargestellt. Es wird pathologisiert, medikalisiert und bisweilen sogar wegoperiert. Verschwiegen werden seine durchaus vorhandenen positiven und bereichernden Seiten. Allein solche Aspekte geraten ins Zentrum der Aufmerksamkeit, die negativ besetzt und als Kräfteschwund interpretiert werden. Gemeinhin wird mit Anti-Aging weniger eine Verjüngung als vielmehr bestimmte Verzögerungstaktiken im Hinblick auf das Altern beschrieben. Aber das ist nur ein gradueller Unterschied. Der Begriff und die mit ihm verbundene Lifestyle-Industrie erlebt in den letzten Jahren eine massive Konjunktur. Von Litfaßsäulen, in Gesundheitsmagazinen und Fernsehshows grinsen uns attraktive, erfolgreiche und sportliche Senioren an, die zeigen sollen, dass Jugendlichkeit keine Frage des chronologischen Alters ist.

Altweibermühle von Tripsdrill (Immanuel Giel, 2007)

Zwar wurde auch in der Vergangenheit immer wieder der Wunsch nach Verjüngung geäußert – davon zeugt etwa das Märchen vom jungeglühten Männlein, der Roman von Oscar Wilde oder das seit der Antike in mannigfaltigen Zusammenhängen verwendete Motiv des Jungbrunnens beziehungsweise der Altweibermühle. Biomedizinisch legitimiert erscheinen uns bestimmte Praktiken der Verjüngung oder Konservierung heute allerdings nicht mehr als ganz so ferne Utopie oder göttliche Gnade, sondern stattdessen als Frage naturwissenschaftlichen Fortschritts und persönlichen Handelns.

Das Bild des Alterns, wie es von den Agenten des Anti-Agings vertreten wird, zeichnet sich durch eine grundlegende Pathologisierung aus. Altern ist hier Entfremdung und Entnormalisierung vom Idealzustand eines jungen, fitten und leistungsfähigen Körpers. Als normal gelten überbordende Lebensenergie und durchtrainierte Körper. Alterungsprozesse werden aus Sicht der Anti-Aging-Community als in weiten Teilen beeinflussbar betrachtet. Durch Sport, Medikation, Ernährung, Lebenseinstellung, Operationen. Die Formbarkeit des biologischen „Ausgangsmaterials“, des menschlichen Körpers, steht im Vordergrund. Keineswegs aber die Annahme der eigenen Beschränkung und Endlichkeit. Vielmehr endloses Wachstum, unsterbliches Ego.

Insofern wirken die Thesen des Anti-Agings hegemonialen kulturellen Setzungen gegenüber affirmativ, stellen sie nicht infrage, sondern versprechen bestmögliche Anpassung an die Vorgaben des Jugend- und Leistungsideals. Dabei obliegt ganz allein dem Individuum die Verantwortung für den Grad seines körperlichen und geistigen Verfalls. Durch bestimmte Handlungsanweisungen wird eine Heilserwartung initiiert, die, wenn sie nicht gar eine ewige Jugend in Aussicht stellt, so doch zumindest einen hohen Grad an möglicher Verzögerungstaktik offeriert. Der Boom von Anti-Aging-Produkten ist Ausdruck eines gesamtgesellschaftlichen Optimierungszwangs. Der Körper erscheint machbar. Es liegt in der Verantwortung des Einzelnen, ihn aktiv zu gestalten. Das neoliberale „duty to be well“ fordert vom Individuum Selbstdisziplin und Eigeninitiative. Andernfalls wird ihm sein alternder Körper als persönliches Versagen ausgelegt, als eine charakterliche Schwäche. Selbst Schuld also, wer alt aussieht. Warum sollte so jemand noch auf die Unterstützung der Gesellschaft hoffen dürfen, ist er doch eine selbstverschuldete Belastung des Sozialstaats – so lautet die brutale Konsequenz dieser Attitüde.

Wettkampf (Thomas Wolter, 2011)

Eine Erklärung, weshalb Anti-Aging seit einigen Jahren eine derartige Konjunktur erlebt, besteht zweifelsohne in der gegenwärtigen von finanziellen Krisen, unzumutbaren Zuständen am Arbeitsmarkt und anderen Unsicherheitslagen gebeutelten gesellschaftlichen Grundsituation. Vom Menschen wird zunehmend Flexibilität, überdurchschnittliches Engagement und zähe Ausdauer erwartet, symbolisiert durch ein sportliches, junges und kerngesundes Äußeres. Bei Nichterfüllung der Vorgaben droht soziale Exklusion und finanzieller Ruin. Es ist eine anwachsende Marginalisierung breiter Bevölkerungsschichten zu verzeichnen. Die Schere zwischen Armut und Reichtum klafft immer weiter auseinander. Existenz- und Abstiegsängste sind die Folge.

Wertschätzung in Form angemessener Entlohnung der Erwerbsarbeit orientiert sich immer weniger am Grad der konkreten Leistung oder Eignung als an Herkunft sowie den Verkaufsstrategien der eigenen Person. Selbstvermarktung ist das Schlagwort der Gegenwart, wobei Inhalte nicht selten der bloßen Form weichen. Es werden dabei traditionell mit der Jugend assoziierte Werte propagiert und eingefordert, namentlich die neoliberale Triade Flexibilität, Engagement und Ausdauer. Die Anti-Aging-Strategien versprechen das Individuum für diese Situation zu rüsten und verstehen sich daher nicht selten auch als emanzipatorisches Programm, was sie allerdings ganz und gar nicht sind. Emanzipatorisch sind vielmehr Diskurse, welche mit dem Alter assoziierte Kompetenzen, etwa Lebensklugheit, Annahme eigener Beschränkung und Endlichkeit, Gemeinsinn, Entschleunigung und Weitsicht betonen.

Der menschliche Körper ist der Anti-Aging-Anschauung zufolge nicht mehr schicksalhaft oder gottgegeben. Er ist Projekt und gestaltbares Material, das be- und verurteilt wird. Dass das eigentlich ein dummer Trugschluß, eine menschenverachtende Hybris und Selbstüberschätzung ist, dafür steht das Märchen vom junggeglühten Männlein sowie der ihm zugrundeliegende Versschwank. Der Geschichte ist die Schadenfreude über die misslungene Verjüngungsaktion des Schmieds, der als Technokrat für eine allzu positivistische Naturwissenschaft steht, anzumerken. Und dass viele sich auch heute noch damit zum Affen machen, ist unübersehbar.

„Der Schmid gar schwind die blaßbelg zug, / die alt sich hin und wider bug / Und schryr das mord sehr grausamlich / Und waltzez auß dem Fewer sich. / Der Schmid der schrey: ‚Sitz darinn still; / Erst ich weidlich zublasen will. / Was schreyst und thust hupffen und gumpen?‘ / Da brunnen all ir Haderlumpen, / Erst schryr das Weib ohn alle ruh. / Der Schmid dacht: Kunst geht nit recht zu.“

Hörtipp zur Lektüre: Forever Young, Alphaville, Album: Forever Young, 1984

 

Anmerkung

[1] Alte Bezeichnung für Schwiegertochter