Taraxacum

„Auf der Straße aufgewachsen wie Löwenzahn

Ah, zwischen Demut und Größenwahn.

Wenn du ´ne gelbe Blume siehst, die den Zement durchbricht,

Denk an mich, änder‘ dich.“

[Sido, 2015]

Die Pflanzengattung Taraxacum gehört zur Familie der Korbblütler und findet sich weltweit in allen Klimazonen. Ihre größte Vielfalt entfaltet sie in den gemäßigten Breiten. Die taxonomische Einteilung der Löwenzahnarten ist indes nicht unproblematisch. Es existiert eine schier unüberschaubare Menge an Sektionen und Unterarten, wobei die Botaniker uneins sind über Abgrenzungen und Varietäten. Und so variiert die Anzahl der unter dieser Pflanzengattung subsumierten Arten zwischen unter hundert und mehreren tausend. Grundsätzlich handelt es sich bei den Löwenzahnarten um mehrjährige krautige Pflanzen, die Wuchshöhen zwischen fünf und fünfzig Zentimeter erreichen. Die länglichen Blätter können verschiedene Formen aufweisen, sind allerdings zumeist lanzettlich und an ihren Außenseiten gezahnt oder gelappt. Alle Pflanzenteile enthalten den charakteristischen Milchsaft. Bis tief ins Erdreich hinein reichen die mitunter mehrere Meter messenden Pfahlwurzeln. Die gelben Scheinblüten treten das ganze Sommerhalbjahr in Erscheinung, wobei die Hauptblütezeit auf die Monate April und Mai fällt. Nach dem Verblühen bildet sich der typische Pappus, eine Art Haarkranz aus flugfähigen Achänen – vortrefflich konstruierten Schirmfliegern, welche die generative Vermehrung der Pflanze gewährleisten und ihr Erbgut über weite Strecken verteilen. Im Volksmund wird diese Erscheinungsform auch als Pusteblume bezeichnet. Löwenzahn ist hinsichtlich seiner Anpassungsfähigkeit phänomenal. Seine langen Wurzeln reichen derart tief unter die Erde, dass ihm auch längere Trockenperioden nichts anhaben können. Fast überall gedeiht Taraxacum – in Mauerritzen, zwischen Gehwegplatten, am Straßenrand, auf Wiesen, Äckern und im Garten – was ihm den gehässigen und völlig unbegründeten Ruf eines Unkrauts eingebracht hat.

Mythos

Wenn es wieder Frühling geworden ist, werden die gelben Blumen überall aus dem Boden brechen. Kleine Sonnen, die winters unter der Schneedecke geruht haben. Sobald die Tage länger, freundlicher und wärmer werden, begrüßen sie ihre große Schwester am Firmament. In jedem Jahr freuen wir uns erneut über die vielen Pusteblumen, die zum Graus vieler Vorgartenbesitzer über Nacht aus dem Boden schießen. Dieser Freude haftet jedesmal etwas Subversives an, das die Pflanzen als Mitstreiter in einem Akt lebensbejahender Sabotage begreift. Denn bereits im Morgengrauen konnte man die ersten pflichtbewussten Vertreter unserer Spezies dabei beobachten, wie sie bewehrt mit Unkrautstechern, Flammenwerfern und Giftspritzen Gehwegplattenverfugungen und Nutzgartenflächen lobotomierten. Es steht außer Zweifel, dass, böte man die zu Unrecht verpönten Blumen unter ihrem klangvollem lateinischen Namen für teures Geld und in Plastikbecher verpackt im Gartencenter an, sich mancher Hobbygärtner Löwenzahn in seinen Garten pflanzen würde.

Denn ob etwas vom Mainstream als wert oder unwert, als Nutzpflanze oder Unkraut eingeordnet wird, ist zumeist willkürlich oder auch – und das in unseren Tagen mit zunehmender Intensität – marktstrategischer Firlefanz, der die Dinge der Welt einzig nach den Möglichkeiten ihrer schnellen und finanziell möglichst ergiebigen Vermarktbarkeit bewertet, wobei Qualität und Nachhaltigkeit bedauerlicherweise regelmäßig ins Hintertreffen geraten. Wertmaßstäbe und Beurteilungkriterien, die rational nachvollziehbaren und längerfristig ausgerichteten Nutzen ins Auge fassen, im Falle des Löwenzahns etwa in Hinwendung zu Ökologie und regionaler Verfügbarkeit,[1] Heilkraft und Geschmack, kommen leider nur recht selten zur Anwendung. Doch auch heute noch lassen wir in unbeobachteten Momenten gerne die Fallschirme der Pusteblume fliegen und sind immer wieder baß erstaunt über die funktionale Technologie und die beeindruckende Reichweite dieser botanischen Flugmaschinen.

Unspektakulär und trotzdem sensationell: Diese Attribute beschreiben das Wesen der Pflanze ziemlich treffend. Außerdem schwingt immer auch ein Unterton von Rebellion und Revolte mit, denkt man an die vegetative Potenz des überaus robusten Krauts und seine Fähigkeit, durch ständige Präsenz im ansonsten gut rasierten Ziergarten jeden Spießer in den Wahnsinn zu treiben. Auch die in den Neunzehnhundertachtziger Jahren sehr populäre ZDF-Kinderserie „Löwenzahn“ hebt auf diesen Begriffsinhalt ab, wenn der Protagonist im nonkonform gestalteten Bauwagen wohnt und seinen Garten zum Ärgernis des Nachbarns fröhlich verwildern lässt.

Der lateinische Gattungsname Teraxacum geht etymologisch vermutlich entweder auf griechische Wurzeln zurück, was die entzündungshemmende Wirkung der Pflanze betonen würde, oder er leitet sich aus dem Persischen ab. „Bitteres Kräutlein, das auf dem Basar verkauft wird“ wäre eine dieser Theorie folgende Übersetzungsvariante.[2] Die volkstümlichen Namen des Krauts sind Legion, was auf ihre ungeheure Popularität verweist. Oft beziehen sich die Pflanzenbezeichnungen auf die Wirkungsweise der Pflanzendroge: Bettseicher, Brunzblume, Bettpisser, Biselbluam, Pissnelke sind Bezeichnungen, die auf die harntreibende Wirkung des Löwenzahns verweisen. Weitere mundartliche Bezeichnungen lauten: Hundeblume, Pusteblume, Maistock. Im Niederdeutschen wird die Pflanze aufgrund der Färbung ihrer Blüte auch als Botterbloom bezeichnet.

In seinem Entwicklungsstadium als Pusteblume, bekrönt vom Pappus, dem typischen Fruchtstand aus haarigen flugfähigen Achänen, wird Löwenzahn gerne für alle möglichen Formen der Wahrsagekunst und des Orakelns zu Rate gezogen: ­Wie viele Kinder wird man dereinst haben? Wie viele Jahre sind es noch zur Hochzeit? Wie lange hat man noch zu leben? Wie viel Uhr ist es? Annäherend alles lässt sich mit der Pusteblume herausfinden. Einfach, indem man mit vollen Backen die kleinen Fallschirme fortbläst und die hartnäckig am Stängel Verbleibenden auszählt. Denn der flaumige Pusteball fällt auf und gefällt durch beinahe futuristisch anmutendes Design und raffinierte Technologie.

In seinem Gedicht Schwebende Zukunft hat der Lyriker und Seefahrer Joachim Ringelnatz diesem Underdog des Asphalts in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts ein würdiges Denkmal gesetzt: „Da schickt der Löwenzahn / Seinen Samen fort in die Luft. / Der ist so leicht wie Duft / Und sinnreich rund umgeben / Von Faserstrahlen, zart wie Spinnenweben.“ Der Chefreformator Martin Luther dagegen betrachtete die Pappen Blume, wie er die Pflanze nennt, als Sinnbild irdischer Vergänglichkeit, die uns der Hinwendung zum rechten Glauben gemahnen soll: „Wir sind Pappi, die die Kinder hinwegblasen.“[3] Sowohl Zukunftszugewandtheit als auch Vergänglichkeitsbewusstsein finden sich in den Erzählungen um den Löwenzahn in seiner Lebensphase als Pusteblume.

Doch da bekanntlich alles fließt, also einem stetigen Wandel unterworfen ist, worüber bereits der vorsokratische Denker Heraklit von Ephesos und sein chinesischer Kollege Laozi ausgiebig nachsannen, verändern sich auch die Mythen um ein und dieselbe Pflanzenart vor dem Hintergrund des Jahreskreises. Der Pappus des Löwenzahns ruft ganz andere Assoziationen hervor als seine strahlende Frühlingsblüte oder die im Winter fest an den Erdboden geschmiegte Blattrosette mit ihren tief in den Untergrund reichenden Pfahlwurzeln.

Ausnahmslos alle Geschöpfe der Pflanzenwelt stehen durch ihre offenkundige Orientierung am lebensspendenden Licht und dem damit verbundenen Vorgang der Photosythese unserem Tagesgestirn naturgemäß besonders nahe. Allerdings gehört der Löwenzahn zu jenen Gewächsen, die den solaren Aspekt bereits in Form und Farbe ihrer leiblichen Erscheinung verkörpern. Zumindest im Frühling. Wie kleine Sonnen einer Galaxie blinken seine samtgoldenen Blüten dann nämlich auf einer ungemähten Wiese dem Himmel entgegen. In der kalten Jahreszeit stellt sich die Situation ganz anders da. Jetzt, da die beste Erntezeit für die Wurzeln des Löwenzahns gekommen ist, und darüber hinaus bis auf kümmerliche Blattreste auch wenig anderes noch vorhanden, rücken die unterirdischen Pflanzenteile ins besondere Augenmerk.

Fraglos ist der Löwenzahn durch seine vielseitige Verwendbarkeit als Nahrungsmittel und Heilkraut sowie durch seine ständige Verfügbarkeit, die sogar in der kalten Jahreszeit gewährleistet ist, für den Menschen bereits früh eine bedeutende Pflanze gewesen. Löwenzahnwurzeln nähren winters nicht allein angesichts verheerender Hungersnöte. Im Frühling munden dann die oberirdischen Triebe. Einmal unten, einmal oben: Teraxacum ist immer für uns da. Als Sinnbild des Lebens und Gedeihens schlechthin, ist die Pflanze auch in den Wintern, Nächten und Finsternissen unseres Daseins, wenn wir seiner also besonders bedürfen, Beistand spendend in unserer Nähe.

Wolfgang Borcherts Erzählung Die Hundeblume handelt von einem Häftling, der sich sehnsüchtig nach einer kleinen unscheinbaren Löwenzahnblüte im ansonsten kargen Gefängnishof verzehrt und diese schließlich an sich zu bringen weiß: „Was ist so komisch: Ein blasierter, reuiger Jüngling aus dem Zeitalter der Grammophonplatten und Raumforschung steht in der Gefängniszelle 432 unter dem hochgemauerten Fenster und hält mit seinen vereinsamten Händen eine kleine gelbe Blume in den schmalen Lichtstrahl – eine ganz gewöhnliche Hundeblume. Und dann hebt dieser Mensch, der gewohnt war, Pulver, Parfüm und Benzin, Gin und Lippenstift zu riechen, die Hundeblume an seine hungrige Nase, die schon monatelang nur das Holz der Pritsche, Staub und Angstschweiß gerochen hat – und er saugt so gierig aus der kleinen gelben Scheibe ihr Wesen in sich hinein, daß er nur noch aus Nase besteht.“[4]

Kost

Löwenzahn ist eines der meist unterschätzten Wildkräuter überhaupt. Denn alles an dieser Pflanze lässt sich in der Küche verwenden und ist noch dazu überaus schmackhaft und gesund. Bisweilen wird behauptet, der weiße Milchsaft sei giftig, was, gelinde gesagt, blanker Unfug ist. Ganz das Gegenteil ist der Fall. Die Inhaltsstoffe des Löwenzahns wirken kräftigend und verdauungsfördernd. Hohe Kaliumkonzentrationen, Inulin und gesundheitsfördernde Bitterstoffe sind unter anderem ursächlich für die medizinische Verwendbarkeit des Krauts. Allerdings kommt es darauf an, den jeweils günstigsten Zeitpunkt für die Ernte der verschiedenen Pflanzenteile zu wählen. Im frühen Winter munden besonders die angenehm süßlichen Pfahlwurzeln, die in der warmen Jahreszeit, wenn die Pflanzen im vollen Saft stehen, eher zäh und fade schmecken. Man kann sie als Gemüse kochen, dünsten oder auch roh verzehren.

Getrocknet, in kleine Stücke zerschnitten, geröstet und mittels eines Mörsers fein zerstoßen, ergeben die Wurzeln einen nicht uninteressanten Kaffeeersatz, der nur noch mit heißem Wasser aufgebrüht werden muss. Die Blätter des Löwenzahns findet man ganzjährig, sogar im tiefsten Winter. Selbstverständlich sind sie zu dieser Zeit nicht annährend so lecker wie im Sommerhalbjahr, aber als Notspeise oder kulinarisches Experiment durchaus nicht zu verachten. Im Frühling sollte man neben den jungen Blättern, die dann durch frisch-nussiges Aroma betören, und die beispielsweise in einem Salat verwendet werden können, unbedingt einmal die fruchtig schmeckenden gelben Blüten kosten. Roh als Salatbeilage, als Gemüse gekocht oder mit Käse überbacken entfalten sie gleichermaßen ihr unverwechselbares Aroma.

Welf-Gerrit Otto

 

Anmerkungen

[1] Die im Übrigen kostenlos und daher wohl auch inakzeptabel ist.

[2] Vgl. Storl 2007: 243.

[3] Luther zit. n. Marzell 1979, IV: 709.

[4] Borchert 1981: 17.

Verwendete Literatur