„Die Kunst gehört zu den Funktionen der Menschheit, die dafür sorgen, dass Menschlichkeit und Wahrheit fortbestehen, dass nicht die ganze Welt und das ganze Menschenleben in Hass und Partei zerfällt.“

[Herrmann Hesse]

Der in der ostfriesischen Stadt Norden 1953 geborene und aufgewachsene Künstler Herbert Müller studierte zunächst Geschichte, Philosophie und Erziehungswissenschaften, bevor er 1974 auch ein Studium der Malerei an der Kunstakademie Münster aufnahm. Nach Examen und Referendariat kam er 1981 nach Ostfriesland zurück, wo er seitdem wohnt und wirkt. Bis 2012 arbeitete er als Kunsterzieher am Gymnasium Ulricianum in Aurich. Seither ist er ausschließlich als freischaffender Maler tätig, der weit über die Region hinaus auch international bekannt ist.

Zwei thematische Schwerpunkte durchziehen das künstlerische Schaffen Herbert Müllers, die gegensätzlicher nicht sein könnten. Zum einen sind dies die farbigen Landschaftsbilder im Wandel der Jahreszeiten, die insbesondere Ostfriesland darstellen: Weite Wiesen und Felder unter hohen Himmeln, wolkenverhangen und lichtdurchflutet gleichermaßen. Vereinzelt Höfe, Häuser und Kirchen in einer spröden Natur, die trotz landschaftlicher Eintönigkeit eine ungeheure Intensität und Farbkraft ausstrahlt. Behaustes Menschenwerk wird gleichsam von der natürlichen Umgebung absorbiert, was auf den Betrachtenden sowohl geborgen als auch verloren wirkt, wodurch eine nachdenkenswerte Ambiguität erzeugt wird.

Die Darstellungen der ostfriesischen Landschaft zeugen von Müllers Meisterschaft, die Merkmale dieser Region auf überzeugende Art und Weise unprätentiös zu inszenieren. Schlichte Schönheit zeichnet diese Nahwelt aus. Keine verklärte Heimatseligkeit offenbart sich in seinen Aquarellen, die durch ihre klaren Linien und kraftvollen Farben auf den Betrachter einen starken Zauber ausüben, sondern eine poetische Darstellung der nahen Wirklichkeit. Müllers Bilder zeigen jedoch auch farblich-strukturelle Steigerungen, die über die Realität hinausgehen und künstlerisch überzeugend gestaltet sind. Trotz der Serialität vieler seiner Motive sind Müllers Arbeiten keineswegs immer gleich, sondern variieren in den innerbildlichen Maßverhältnissen, der optisch-kompositionellen Gewichtung und der Anordnung auf der Bildfläche.

Neben den farbigen Landschaftsbildern besteht Müllers zweiter thematischer Schwerpunkt in Arbeiten zur Zeitgeschichte. Seine in schwarz-weiß gehaltenen Darstellungen künden von Gewalt, Leid und Ohnmacht. Hier zeigt sich Müllers kühner und ungewöhnlicher Zugriff, der die Grausamkeit und Brutalität der jüngsten Vergangenheit dokumentarisch ins Gedächtnis ruft. Auch in seinem zweiten thematischen Schwerpunkt nimmt der Künstler Bezug auf seine Nahwelt und stellt die in die Landschaft eingeschriebene Geschichte dar. Denn in unmittelbarer Nähe seines Ateliers befand sich während der nationalsozialistischen Diktatur das Konzentrationslager Engerhafe.

Dabei thematisiert er allerdings nicht nur das Leid der vielen Todesopfer des Konzentrationslagers in seinen Bildern, sondern erinnert auch an die Schreckensherrschaft der Roten Khmer unter Pol Pot in Kambodscha. Seine Kohlebildnisse, die er in Orientierung an Fotografien erstellt hat, zeigen todgeweihte Opfer und berühren den Betrachter tief in ihrem humanistischen Ausdruck. In diesen zeitgeschichtlichen Zeichnungen offenbart sich auch der geisteswissenschaftliche Hintergrund des Künstlers, sein historisches und philosophisches Interesse sowie sein pädagogischer Anspruch im besten Sinne.

Insgesamt zeigt Müllers Werk somit die Vielfalt und Zerrissenheit unserer Welt auf eindringliche Art und Weise. Seine Darstellungen unpathetischer Idylle und menschenverachtenden Grauens sind dabei nicht nur künstlerisch überzeugend gestaltet, sondern zeugen auch von seinem Blick unter die Oberfläche der vordergründigen Erscheinungen sowie seinem philanthropischen Geschichts- und Verantwortungsbewusstsein.

Die Werke von Herbert Müller sind Kunstwerke, die aufgrund ihrer emotionalen Stärke und künstlerischen Persönlichkeit den Betrachter niemals unberührt lassen. Jedes Bild zeigt die charakterliche Tiefe und handwerkliche Meisterschaft des Künstlers, der jedoch bescheiden hinter seinem Werk zurücktritt und den Fokus auf das Bild selbst lenkt, das eine Verbindung zum Betrachter herstellt.

Insgesamt kann ein Künstler, der sowohl Kriegsgräuel als auch idyllische Landschaften seiner Heimat in großer handwerklicher Meisterschaft wie Herbert Müller thematisiert, dazu beitragen, ein breiteres Verständnis und Bewusstsein für die komplexen Zusammenhänge zwischen Mensch, Natur und Konflikt zu schaffen. Solche Kunst kann dazu beitragen, das Bewusstsein für die Komplexität und Ambivalenz unserer Welt zu schärfen und Verantwortung für gesellschaftliche Entwicklungen zu übernehmen.

Dr. Knottos Koole Kunst Kolumne 19 (Juli 2023) Welf-Gerrit Otto