Phragmites australis

„Im Seerosenteich,

umgeben von Schilf und Baum,

hat der Himmel Raum.“

[Else Pannek]

Die in Norddeutschland traditionell zum Dachdecken und als Uferbefestigung verwendete Sumpfpflanze aus der Familie der Süßgräser ist eng mit dem asiatischen Bambus verwandt und lässt sich wie dieser auch vorzüglich als Speise verwerten. Schilf ist ein Rhizom-Geophyt und gehört zu den größten Gräsern unseres Planeten, wobei im Normalfall zwei bis vier Meter, in Ausnahmefällen sogar bis zu acht Meter Höhe erreicht werden können. Die länglichen, schneidend scharfen Blätter haben eine Breite von zwei bis drei Zentimeter und sind etwa dreißig Zentimeter lang. Aus bis zu zwanzig Meter langen unterirdischen Rhizomen gehen die Pflanzen jedes Jahr neu hervor. Über die Rhizome vollzieht sich auch die vegetative Vermehrung der Pflanze. Im Winter trocknet das Röhricht und macht im Frühling neuen Trieben Platz. In den Monaten Juli bis September blüht das Schilfrohr. Am Ende des Halms bildet sich dann eine weitverzweigte Rispe. Die Samen breiten sich als Schirmchenflieger aus oder schwimmen auf der Wasseroberfläche neuen Gestaden entgegen. Das Riesengras kommt in verschiedenen Arten weltweit vor. Verbreitet ist es vor allem im Saumbereich stehender und fließender Gewässer, gedeiht allerdings auch direkt im Wasser oder in höheren, trockenen Lagen.

 

Mythos

Über unzählige Kilometer erstreckt sich das Röhricht entlang der weißen Strände der Unterweser. Sind die Ufer des Wattenmeeres zumeist schlammig und bei Ebbe von glucksender Ödnis und erhabener Weite, findet man Sanddünen und breite Strände auf dem Festland allein im Mündungsbereich der großen Ströme Elbe und Weser. Meine Jugend verbrachte ich auf einer der Flussinseln, nur einen Möwenschrei von der nahen Nordsee entfernt. Der Tidenhub dort ist beachtlich, so dass bei Niedrigwasser ein etwa fünfzig Meter breiter Sandstrand zu langen Spaziergängen einlädt. Steigt das Wasser dann wieder, wird der Pfad am Ufer zusehends schmaler, bis man sich bei Flut schließlich eingezwängt zwischen Brackwasser und Schilfgürtel wiederfindet. Oft wanderte ich in diesen Tagen in Gedanken versunken am Strand entlang ohne auf die steigende Flut zu achten. Das endete regelmäßig damit, dass mein Spaziergang an einer der kleinen Sandbuchten endete, die ringsum von dichtem Röhricht bestanden waren, welches den Aufstieg zum höher gelegenen Inselareal versperrte. Weder an Weiterkommen noch an Rückzug war zeitweise zu denken. Hätte man den Schilfgürtel mühsam durchquert, hinderten einen stachelige Brombeerranken und wildes Gekraute am Weiterkommen. Auf der anderen Seite schwappte der hoch aufgelaufene Fluss. Es blieb mir also nichts anderes übrig, als auf das ablaufende Wasser zu warten und eine Rast einzulegen. Abgeschieden vom Rest der Welt waren diese Ausflüge ins Röhricht eine willkommene Abwechslung zur permanenten Erreichbarkeit und Verfügbarkeit auf dem Festland.

Schilf ist eine amphibische Lebensform. In Mythos und Volksglaube ist die Pflanze daher eng verbunden mit den Elementargeistern des Wassers. Palaimon, eine griechische Meeresgottheit, war mit Schilfrohr bekränzt. Überhaupt waren Nymphen und Flusswesen oft mit dieser Pflanze ausstaffiert, die ihr natürliches Habitat bildet. Meerwunder, Nixen, Wassermänner und Wasserfrauen erscheinen in Märchen und Sagen häufig behangen mit Algen, Seetang oder Schilfrohr.[1] Diese Wesen zeichnet aus, dass sie sehr an einem Austausch mit den Menschen interessiert sind – vor allem mit unheilvoller Absicht. Seejungfrauen und Nixen locken nämlich junge Männer in die Fluten, um sich mit ihnen zu vermählen, ob diese nun wollen oder nicht. Die Sirenen der homerischen Erzählung betören die Seefahrer durch ihren Gesang. Odysseus lässt sich deshalb von seinen Mannen an den Mast seines Schiffs binden und erleidet Höllenqualen, so sehr setzen ihm die wunderschönen Wasserfrauen zu.

Es gibt kaum ein Entkommen vor den betörenden Wesen, die in der Kunstgeschichte halb menschlich, halb fischig dargestellt werden.[2] Betrachtet man den sumpfigen und nicht selten unergründlichen Lebensraum des Schilfrohrs im indifferenten Bereich der Gezeiten, wird ersichtlich, weshalb der Umgang mit den Wasserwesen Gefahren für Leib und Leben birgt. Ertrinken droht dem Unachtsamen, Wirrnis und Verirrung. Nicht menschliche Wohnstatt ist das Geröhre, es ist weder See noch Land. Unergründlich und fern der Menschenwelt. Wer schon einmal im offenen Boot im Röhricht übernachtet hat, weiß wie unheimlich nächtens der Wind durch das Reet streicht. Wispernde Stimmen meint man zu hören, wenn die Halme aneinander streichen. Zierliche Wesen huschen zwischen den tanzenden Halmen umher.

Die Bewegungen des Schilfrohrs im Wind weisen in einen weiteren Bereich symbolhafter Bedeutung. Sprichwörtlich ist die Pflanze für ihre Elastizität, die negativ als Wankelmütigkeit, positiv als Anpassungsfähigkeit gedeutet werden kann. Liedermacher Hannes Wader identifiziert sich auf seinem 1972 erschienen Album „7 Lieder“ mit der Pflanze, wenn er singt: „Ich bin ein Rohr im Wind / Bind dich nicht an an mich! / Ich bin kein Halt, mein Kind / Für dein Boot und dich.“[3] Das kann als Warnung vor der eigenen Charakterschwäche oder auch, dem Zeitgeist der frühen 1970er Jahre entsprechend, als selbstbewusster Ausdruck maskulinen Freiheitsdrangs betrachtet werden.

Dabei tritt Schilfrohr seiner Wuchsform entsprechend in den Mythen und Geschichten der Menschen weit weniger individuell in Erscheinung als dies beispielsweise bei Rosenstock oder Eiche der Fall ist. Zu Unrecht. Seine unterirdischen Rhizome sind mitunter derart weit verzweigt, dass nicht mehr auszumachen ist, wo die Einzelpflanze endet und der Nachbar beginnt. Durch vegetative Vermehrung kann ein genetisch identischer Organismus sich über viele Quadratkilometer ausbreiten und ein Alter von mehreren tausend Jahren erreichen.

Auch die Bibel, neben vorchristlicher Mythologie wichtigste Urschrift abendländischer Erzählungen und Symbolik, weiß vieles über Pflanzen zu berichten, so auch über das Schilfrohr. Allgemein bekannt dürfte die Geschichte sein, der zufolge der junge Moses am Nilufer in einem kleinen Binsenkörbchen inmitten von Schilf ausgesetzt wurde, bevor er seine beispiellose Karriere als Religionsgründer antrat.[4] Im für das Alte Testament typischen Duktus der Drohung und des Ethnozentrismus ist folgende Passage im 1. Buch der Könige abgefasst, welche ebenfalls Bezug auf die Pflanze nimmt: „Der HERR wird Israel schlagen, dass es schwankt wie das Rohr im Wasser, und er wird Israel aus diesem guten Land, das er den Vätern gegeben hat, ausreißen und es jenseits des Stromes zerstreuen, weil sie sich Kultpfähle gemacht und ihn dadurch erzürnt haben.“[5]

Doch nicht nur die Bibel beglückt uns mit „Binsenweisheiten“ über das Schilf. Folgende Geschichte entstammt der griechischen Mythologie: Pan, der griechische Gott der Hirten und ihrer Herden, war bekannt für seine überbordende Sinneslust. Nicht selten näherte er sich schamverletzend doch guter Dinge Menschen und Naturgeistern, um sich an ihnen sexuell zu vergreifen. Auch die Nymphe Syrinx war vor seinen Nachstellungen nicht sicher. Um dem Geilomaten in Bocksgestalt zu entkommen, verwandelte sie sich auf ihrer Flucht geschwind in ein Schilfrohr. Doch das hätte sie nicht tun sollen. Denn sobald Pan die Pflanze erreicht hatte, brach er sie und fertigte aus ihr mit wenigen Handgriffen ein Musikinstrument, das bis heute unter dem Namen Panflöte oder Syrinx bekannt ist.[6]

 

Kost

Dass Schilfrohr für viele Dinge verwendet werden kann, ist allgemein bekannt. Reetgedeckte Häuser finden sich im gesamten norddeutschen Raum. Auch für Schilfmatten, Streu, als biologische Kläranlage und Uferbefestigung lässt sich das größte heimische Gras vortrefflich nutzen. Dass Schilfrohr auch kulinarische Offenbarungen bereithält, ist dagegen eher unbekannt. Ebenso wie Bambus lassen sich im Frühjahr die jungen Sprossen ernten und als Gemüse dünsten und verspeisen. Dabei ist darauf zu achten, die äußeren Blätter zu entfernen und den Trieb anschließend mit einem Spargelschäler von seiner Schale zu befreien. Die Sprossen können auch roh gegessen werden, beispielsweise in einem Salat. Im Herbst ist das oberirdische Schilfrohr allerdings nicht mehr genießbar. Man konzentriert sich bei der Nahrungssuche daher auf den Untergrund. Jetzt ist die beste Sammelzeit für die Wurzeln, mit denen man genauso verfährt wie mit den Sprossen. Man kann sie auch trocknen und zu Mehl weiterverarbeiten. Oder man röstet kleingeschnittene Wurzelstückchen und bereitet aus ihnen einen schmackhaften Kaffeeersatz.

 

Anmerkungen

[1] Vgl. Dierbach 1833: 70; Herrmann 2001: 140.

[2] Zur Mythologie der Elementargeister des Wassers vgl. auch Otto 2018.

[3] Rohr im Wind, Hannes Wader, Album: 7 Lieder, 1972

[4] Vgl. Altes Testament, Ex 2,3.

[5] Altes Testament, 1 Kön 14,15 (EU).

[6] Vgl. Aghion et al. 2000: 228.

Verwendete Literatur