Der Maler, Grafiker und Bildhauer Georg Baselitz stand Zeit seines Lebens für die Zerschlagung überkommener Ordnungen, die sinnentleert und bedeutungslos geworden waren. In provokativer, mitunter obszöner Manier nutzte er sein großes Können, um fadenscheinige Konventionen der Wahrnehmung in Frage zu stellen. Das betrifft die Inhalte seiner Werke ebenso wie deren Ausführung. Seit Ende der 1960er Jahre malt er seine Bilder beispielsweise auf dem Kopf, was ihm auch außerhalb der Kunstszene zu weltweiter Bekanntheit verhalf. In einem Interview erklärt der Künstler die Hintergründe seiner Provokation: „Ich bin in eine zerstörte Ordnung hineingeboren worden, in eine zerstörte Landschaft, in ein zerstörtes Volk, in eine zerstörte Gesellschaft. Und ich wollte keine neue Ordnung einführen. Ich hatte mehr als genug sogenannte Ordnungen gesehen. Ich war gezwungen, alles in Frage zu stellen, musste erneut ‚naiv‘ sein, neu anfangen.“
Derzeit bietet sich für einen Neubeginn die allerbeste Gelegenheit. Die Pandemie hat uns vor Augen geführt, dass unsere derzeitige Art miteinander und mit den Ressourcen der Welt zu verfahren alles andere als zukunftsfähig ist. Wollen wir unseren Kindern und Kindeskindern einen lebenswerten Planeten überantworten, müssen wir endlich umdenken. Wie bei Baselitz gehört dazu eine gewisse Radikalität, ein strikter Bruch mit ungesund gewordenen Ordnungen und vermeintlichen Selbstverständlichkeiten. Mit ein bisschen Pinseln und ein wenig Klecksen hier und da, ist uns nicht geholfen. Vielmehr bedarf es einer markanten Zäsur.
Kunst und Kultur bietet hierfür ein nicht zu unterschätzendes Werkzeug und Medium. Der ebenfalls visionäre Maler Paul Klee sagte sinngemäß einmal, Kunst würde nicht Sichtbares abbilden, sondern Unsichtbares sichtbar machen. Und gute Kunst lebt von Utopien und Visionen. Gute Kunst ist (gesellschafts-) politisch im besten Sinne. Carsten Brosda, Kultursenator in Hamburg sowie Präsident des Deutschen Bühnenvereins hat dieser nicht zu unterschätzenden Binsenweisheit unlängst in einem Interview zur Coronakrise Ausdruck verliehen. Mit Vernunft alleine könne man die Spaltung der Gesellschaft nicht überwinden, weiß Brosda. Kultur hingegen würde sinnlich erfahrbar machen, was Solidarität bedeutet. Deswegen dürfe hier nicht gespart werden.
Kunst muss sein. Unbedingt. Wer indes meint, sie sei nur eine schmucke Zier, ein überflüssiges Ornament, der irrt gewaltig. Kunst und Kultur sind ebenso systemrelevant wie manch anderes. Kunst und Kultur loten Möglichkeiten aus, die von Wissenschaft, Wirtschaft und Politik oft unbemerkt und daher ungenutzt bleiben. Kunst macht Unsichtbares sichtbar. Hoffen wir, dass unsere neue Regierung es ebenso sieht und dementsprechend handelt.
Dr. Knottos Koole Kunst Kolumne, Januar 2022