„Denn das Naturell der Frauen ist so nah mit Kunst verwandt“
[Johann Wolfgang von Goethe]
Schon viel ist über das Verhältnis von Kunst und erotischer Anziehung geschrieben worden. Zumeist wurde dabei vorausgesetzt, dass Künstler*innen grundsätzlich dem Erotischen zugewandter seien als die übrige Menschheit. Und das sie darüber hinaus auch über eine größere sexuelle Anziehung verfügen würden. Weshalb das so sein soll, wurde dabei indes wenig verhandelt. Nun, könnte man meinen, Künstler*innen haben eben einen Sinn für das Schöne, sie können das Gemüt ansprechen, sie sind sensibel – alles Attribute, die sie für andere Menschen anziehend machen.
Der Mythos von der Attraktivität und Potenz des künstlerisch Tätigen findet sich in mannigfaltigen Kontexten. Da ist beispielsweise der oben zitierte Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832), der sich noch als alter Sack mit über siebzig Jahren unsterblich in das Teenager-Girl Ulrike von Levetzow (1804-1899) verknallte. Die hatte allerdings so gar keinen Bock auf die Avancen des lustgreisen Dichterfürsten. Anders sah es mit den zahlreichen Gespielinnen des norddeutschen Zeichners und Grafikers Horst Janssen (1929-1995) aus, die sich trotz des exzentrischen Wesens des nicht sonderlich ansehnlichen Künstlers, welches durch seinen permanenten Suff noch an Drastik gewann, nicht nur nicht in erotischer Hinsicht abschrecken, sondern sich darüber hinaus auch noch fröhlich von ihm schwängern ließen.
Nun fällt einem bei näherer Betrachtung indes auf, dass es auch viele andere Künstler*innen gibt, bei denen Sexualität keine oder nur eine durchschnittliche Bedeutung spielt. Der durchaus gutaussehende Wilhelm Busch (1832-1908) beispielsweise hatte offenbar zeitlebens keine Liebesbeziehung, was ihn zwar nicht asexuell erscheinen lässt, jedoch die recht geringe Bedeutung derlei pikanter Dinge in seinem Leben veranschaulicht. Der beschriebene Mythos von der sexuellen Unersättlichkeit des Künstlers ist also natürlich absoluter Quatsch. Witzig ist immerhin, dass er immer wieder kolportiert wird – gleichermaßen bezogen auf den kinky Rockstar wie auch auf die mannstolle Aktionskünstlerin.
Nachdem die Sache mit der angeblich sinnlichen Tobsucht aller künstlerisch Tätigen ad absurdum geführt wurde, bleibt die Frage, was den Künstler bei anderen attraktiv macht. Natürlich kompensieren alle sexuell faszinierenden Menschen vorhandene körperliche und charakterliche Defizite durch Kapital in anderen Bereichen – etwa durch Geld, Macht oder Ruhm. Beim Künstler scheint die Sache allerdings weit über derlei hinauszugehen.
Nun wollen wir uns der Abwechslung halber einmal nicht mit dem üblichen geisteswissenschaftlichen Philosophieren zufriedengeben, sondern uns der Angelegenheit diesmal mit den scharfen Geschützen der Naturwissenschaften annähern. Evolutionsbiologische Überlegungen mit Bezug auf die rationale Funktion von Kunst haben in den letzten Jahren an Umfang zugenommen. Künstlerisches Schaffen wird hierbei positivistisch als Selektionsvorteil erklärt. Künstler*innen würden demnach mehr Nachkommen zeugen, was ihnen einen genetischen Vorteil brächte.
Dieser Selektionsvorteil kann in dreierlei Weise als Kriterium der Partnerwahl hergeleitet werden: Zum einen insofern, als Menschen, die sich mit Kunst beschäftigen, ganz einfach nicht mit den Primärbedürfnissen nach Nahrung und Sicherheit befasst sein müssen. Etwa weil sich Dienerschaft und Untergebene um diese schnöden Dinge zu kümmern haben. Für die Tochter des Fabrikbesitzers oder den dritten Sohn des Kautschukbarons bleiben genügend Zeit und Ressourcen, um sich mit schöngeistigen Dingen zu befassen und obendrein auch noch eine gute Partie auf dem Heiratsmarkt abzugeben.
Der zweite Aspekt, der den künstlerisch Tätigen als Partner attraktiv werden lässt, erklärt sich folgendermaßen: Die Fähigkeit Kunst zu erschaffen weist auf Kreativität hin, die auch über die Kunst hinaus Überlebensfähigkeit unter Beweis stellt. Konkret bedeutet dies, dass künstlerisch Kreative auch Lösungen in anderen Bereichen, etwa in technischen oder finanziellen, zu finden imstande sind.
Mit dem dritten Aspekt des Selektionsvorteils des Künstlers verlassen wir nun allerdings die kanalisierten Ufer naturwissenschaftlichen Notwendigkeitsdenkens und begeben uns wieder in die wilden Wälder kulturanthropologischer Selbstgewissheit: Kunst deutet die Welt außerhalb des Logos. Dort wird in derselben Tonart musiziert wie in den Religionen, wie in der Liebe. Gruppenidentität und Individualismus wird von ihr gleichermaßen bespielt, Du und ich verschmelzen miteinander. Und wenn sie schon nicht schön ist – eindrücklich ist Kunst im besten Fall immer. Das macht Kunst und Künster*innen sexy.
Welf-Gerrit Otto: Dr. Knottos Koole Kunst Kolumne 18 (Juni 2023)