„An Gaia, die Mutter von Allem.
Ich werde von der wohlbegründeten Erde singen,
Mutter aller, älteste aller Wesen.“
[Homerischer Hymnus XXX]
In der Welt der Alten Griechen galt Gaia als göttliche Personifikation der Erde. Laut Hesiod entstand die Erdmutter als eine der ersten Gottheiten aus dem uranfänglichen Chaos. Aus sich selbst heraus gebar Gaia den Uranos, Weltbeherrscher in erster Generation sowie Symbol des Himmelsgewölbes und vielleicht auch der Erdatmosphäre, wenn man so will. Mit ihrem Erstgeborenen zeugte Gaia die ersten Wesen – die Titanen, die einäugigen Kyklopen und die gigantischen hundertarmigen Hekatoncheiren, die sich zu einem späteren Zeitpunkt, von ihrer Mutter dazu ermächtigt, gegen ihren ignoranten Vater auflehnen und ihm, auf gut deutsch gesagt, die Eier abschneiden und ihn vom Thron stürzen sollten, den sein Sohn Kronos daraufhin einnehmen wird, bevor ihn das gleiche Schicksal durch seinen Nachkommen Zeus ereilt. Das Gemächt von Uranos platschte jedenfalls frisch abgesäbelt fröhlich ins Meer, woraus dann lasziv shoking die verführerische Liebesgöttin Aphrodite emporstieg. Aber das ist eine andere Geschichte.
Soviel erst einmal zum bildungsbürgerlichen Kanon und den entsprechenden Actionhelden der griechischen Antike. Wenn man die Stories weniger als blutrünstige und schweinisch-pornografische Fernsehserie betrachtet und noch weniger als hehre Geschichtsstunde voll des plumpen Pathos, sind die Erzählungen symbolische Abhandlungen über natürliche und psychologische Prozesse, denen ein beseeltes und poetisches Verständnis der Natur innewohnt. Das dachte sich auch der britische Biopysiker James Lovelock (1919-2022) als er vor rund fünfzig Jahren auf der Grundlage von harten naturwissenschaftlichen Fakten die sogenannte Gaia-Hypothese postulierte.
Demzufolge ist unser Heimatplanet ein selbstorganisiertes System, das als ein einziges Lebewesen betrachtet werden kann. Entsprechend dieser Auffassung sind Tiere, Pflanzen, Gebirge, Ozeane, ja die gesamte Biosphäre der Erde – und damit auch die Menschheit – nur Teile eines gigantischen weltumfassenden Organismus, der seine Bahn durch das Universum zieht. Die Wälder sind Lunge, die Meere Nieren und Leber, Flüsse bilden das Geflecht der Blutgefäße und so weiter. Kluge Geister haben, der Gaia-Hypothese folgend, die Menschheit auch als Bewusstsein des Planeten bezeichnet. Bemerkenswert und poetisch, möchte ich meinen.
Lovelocks Hypothese ist nun allerdings alles andere als versponnen esoterisch. Bei seinen Forschungsergebnissen stützt sich der Wissenschaftler auf verschiedene belegbare Parameter. Entsprechend der Definition von Leben handelt es sich auch bei der Erde um ein komplexes System, das sich seit mehr als drei Milliarden Jahren selbst reguliert – beispielsweise hinsichtlich Sauerstoffgehalt der Atmosphäre und Salzgehalt der Meere. Diese Entdeckungen sind alles andere als selbstverständlich, zeigen sie doch, dass sich entgegen aller unter Laborbedingungen prognostizierten Erwartung, das System Erde unter Normalbedingungen gleich einem menschlichen Körper regeneriert und systemisch in der Waage hält. Eine bezaubernde und inspirierende Tatsache, die uns zu denken geben sollte.
Lovelocks Hypothese wurde im gleichen Jahr verschriftlich wie der Bericht des Club of Rome „Die Grenzen des Wachstums“. Das war 1972 und ist nun mehr als fünfzig Jahre her. Viel hat sich seitdem hinsichtlich der Rettung unseres Planeten nicht getan. Ursächlich dafür mag im Wesentlichen der Irrtum sein, dass wir Menschen von unserer Erde getrennt sind und sie uns untertan machen sollen. Das Bild von Gaia als einem ungetrennten Lebewesen, dem wir alle angehören, schafft Identifikation und Verantwortung. Und so wie Gaia ein bedeutender Topos in der Kunstgeschichte ist, sollte sich die zeitgenössische Kunst auch wieder verstärkt diesem lebenswichtigen Thema widmen.
Dr. Knottos Koole Kunst Kolumne 14 (Februar 2023)