Kontroversen um eine Skulptur der Frau Holle auf dem Hohen Meißner
„Siehst du zum Greifen die Wolken spielen, Dörfer und Weiler zu Füßen ringsum. Nennst du ihn König unter den vielen Hessischen Bergen und weißt, warum. Denn er muß eine Krone tragen, eine Krone an Goldes statt, die aus lauter Märchen und Sagen heimlich das Volk ihm geschmiedet hat.“
[„Meißner“, Otto Blüse, Hessischer Heimatdichter, 1950]
„Dicke Titten, Herz aus Gold: Das hab‘ ich schon immer gewollt.“
[„Herz aus Gold“, Die Lokalmatadore, Punkband aus Mühlheim an der Ruhr, 1994]
Unweit der alten kurhessischen Residenzstadt Kassel, zwischen Eschwege und Lichtenau, erhebt sich das Bergmassiv des Hohen Meißner bis zu einer Höhe von etwa 750 Meter über dem Meeresspiegel. Aufgrund seines reichen Sagenschatzes wird der Berg seit Langem in Zusammenhang gebracht mit der Gestalt der Frau Holle. Nachdem er Jahrhunderte lang intensiv bergmännisch erschlossen worden war, führte man den Hohen Meißner entsprechend der Spielregeln der Dienstleistungsgesellschaft vor einigen Jahren einer touristischen Nutzung zu. Dabei kam es zu einer nicht uninteressanten Kontroverse um eine Holzfigur, die hier beschrieben werden soll.[1]
Das Bildnis
Im Juli 2004 unterbrach geschäftiges Treiben die arkadische Stille in den wieder aufgeforsteten Freizeitflächen nahe der Landstraßenkreuzung L3241/L3242. Das Gezwitscher der Vögel im Naturschutzgebiet erstarb jäh, als eine mächtige hölzerne Masse durch das Unterholz gewuchtet und am Ufer des Frau Hollen-Teiches installiert wurde. Der Naturpark Meißner-Kaufunger Wald sowie der Hessen-Forst hatten im Rahmen der Hollen-Kampagne eine 3,15 Meter hohe und etwa 1,5 Tonnen schwere Skulptur aus Ulmenholz aufstellen lassen, welche Frau Holle darstellen soll. Eine junge, dralle Frau Holle – mit großen, schweren Brüsten, auf denen der erschöpfte Wanderer seinen Blick ruhen lassen kann. „Damit soll der Meißner mit seinen Märchen und seinen Mythen ein bisschen geweckt und touristisch vermarktet werden“, ließ der Naturpark-Vorsitzende und Erster Kreisbeigeordnete zur Vorstellung des Kunstwerkes verlauten. Der Naturpark-Geschäftsführer begründete die voluminöse Form der Skulptur damit, dass man Frau Holle als ursprüngliche Gottgestalt darstellen wolle, als eine schöne, begehrenswerte Frau, die gerade aus ihrem Bade steigt. Geldgeber des Projektes war ein Hamburger Kaufmann, der sich dadurch zum wiederholten Male als Gönner des Naturparks hervortat.
Die Hollen-Skulptur war in der Kreativwerkstatt der Volkshochschule Witzenhausen entstanden, wo ein prekär beschäftigter Bildhauer sie in mehrmonatiger Arbeit aus dem Stamm einer Ulme geschält hatte. Der 1999 aus Kasachstan eingewanderte deutschstämmige Holzkünstler hatte zu diesem Zeitpunkt bereits zahlreiche touristische Attraktionen für die Region geschaffen. Alle seine Werke kommen einem Stil nahe, der deutlich an den Sozialistischen Realismus erinnert. Abstrakte Kunst zumindest ist seine Sache nicht.
Die Kontroverse
Als die kapitale Figur am Osthang des Hohen Meißners direkt am Tümpel Aufstellung bezogen hatte, ahnte noch niemand, welche Teichwellen dieses Bildnis regional und bundesweit schlagen würde. Etwa zwei Wochen nach der öffentlichen Präsentation gingen erste empörte Leserbriefe aus der Bevölkerung bei der Redaktion der lokalen Zeitung ein, die ihren Unmut über die Skulptur und die Wahl des Aufstellungsortes zum Ausdruck brachten. In den folgenden Monaten kam es zu einer hitzigen Debatte zwischen Gegnern und Befürwortern, in deren Verlauf die Holzfigur von Unbekannten sogar teilweise zerstört wurde. Nachdem die Deutsche Presse Agentur die Ereignisse am Hohen Meißner aufgegriffen und von ihnen berichtet hatte, brandete eine Woge des bundesweiten Interesses in die hessische Provinz. Überregionale Printmedien sowie Funk und Fernsehen bestürmten den Ersten Kreisbeigeordneten mit Fragen. Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel veröffentlichte die Kontroverse im Internet, und bald konnte man beim Hessischen Rundfunk, bei RTL und beim ZDF die weiteren Ereignisse verfolgen.
Für die regionalen Touristiker war dieser Rummel die beste Werbung: „Was tut man nicht alles zum Wohle unserer Region“, schmunzelte der Erste Kreisbeigeordnete. Die Kontroverse sorgte für unverhoffte Bekanntheit der Region. Zahlreiche Gäste wurden auf die Gegend aufmerksam und besuchten die Stätte des Anstoßes, um sich selbst ein Bild vom Bildnis zu machen. Man hoffte folglich auf steigende Einnahmen durch den Tourismus. Ein nicht berücksichtigter Nebeneffekt des anhaltenden Menschenauflaufes war jedoch, dass die örtliche Flora und Fauna nicht unbeträchtlich beeinträchtigt wurde: Die Aufstellung der Skulptur im Naturschutzgebiet hatte bereits eine Ausnahmegenehmigung erfordert, und um den nötigen Platz zu schaffen, waren einige entomologisch nicht unbedeutsame Bäume gefällt worden. Das große öffentliche Interesse an der Skulptur, welche im hinteren Bereich des Teiches unübersehbar Aufstellung bezogen hatte, sorgte nun dafür, dass Heerscharen von Schaulustigen durch das Geäst brachen und dabei Trampelpfade im Ökosystem hinterließen.
Der Streit um die Darstellung der Frau Holle auf dem Hohen Meißner zeugt einerseits von der ungebrochenen Aktualität von Märchen und Mythen in unserer heutigen Zeit, und er bezeugt andererseits ihre gesellschaftliche und kulturpolitische Beanspruchung. Frau Holle bietet reichlich Identifikationspotential und Anlass, über das eigene Leben und die Gestaltung der Lebenswelt zu reflektieren.
Die Gegner
Die Gegner der Skulptur äußerten sich in zahlreichen Leserbriefen und brachten dort ihre Argumente vor. Im Rahmen von Diskussionsabenden, die von der Frauen-Beauftragten des Werra-Meißner-Kreises initiiert wurden, versuchte man Befürwortern und Gegnern die Möglichkeit zur Diskussion zu geben. Es formierte sich eine „Initiativgruppe Frau-Holle-Teich“, die laut Pressemeldung in die touristische Arbeit am Hohen Meißner mit einbezogen werden sollte. Der Forderung nach der Aufstellung der Holle-Skulptur an einem alternativen Ort wurde jedoch nicht stattgegeben.
Eine der grundlegenden Beschwerden an der Aufstellung der Figur im Naturschutzgebiet richtete sich gegen ihren Anspruch, Kunst zu sein. Die Skulptur wurde in diesem Zusammenhang mit einer Vielzahl herabwürdigender Bezeichnungen tituliert, die sich in erster Linie auf ihren als vulgär empfundenen Brustumfang und die Naivität einer realistischen Darstellungsweise richteten: „Barbiepuppe mit Atombusen“, „Sexy Girl“, „Monströses Busenwunder“. Die Skulptur wurde als kitschig und sexistisch empfunden.
Eine weitere zentrale Kritik an der Skulptur bezog sich auf ihren Standort. Von allen Skulptur-Gegnern wurde der künstliche Eingriff in die als Naturlandschaft verstandene Umgebung des Teiches beanstandet. Insofern forderte man, den Teich in seiner vermeintlich ursprünglichen Natürlichkeit zu belassen. Dabei trugen die Kritiker neben ökologischen auch religiös motivierte Bedenken vor. Die religiös begründete Kritik an der Verfremdung der Landschaft durch die Aufstellung der Skulptur kam aus den Kreisen von Esoterik, New Age und Neuheidentum. Nach diesem Verständnis handelt es sich bei dem Frau Holle-Teich um einen Kraftort, den Kultplatz einer weiblichen Gottheit. Dabei stützte man sich, ebenso wie übrigens auch die Befürworter der Skulptur, auf die diesbezügliche Interpretation der archäologischen Funde und die reiche Sagenüberlieferung, um den Ort als paganes Heiligtum auszuweisen. Der Frau Holle-Teich fungiert für seine Gläubigen als ein Kraftort, ein Naturheiligtum, das es vor profaner Verfügbarkeit zu bewahren gilt.
Zugleich wird auf die Vielgestaltigkeit der Holle abgehoben und betont, dass sie undarstellbar, nicht auf ein bestimmtes Bild festzulegen sei. Diese Kritik behauptet, dass eine bildlich fixierte Auslegung der Frau Holle ihrem vielgestaltigen Wesen nicht gerecht werde, sondern sie auf einen Aspekt reduziere, der fortan die Phantasie der Besucher dominiere: „Schade um die geheimnisvolle Stimmung, die Menschen umgab, wenn sie sich dem Frau-Holle-Teich näherten. Sie konnten sich dem Zauber der weitgehend unberührten Natur und ihrer Fantasie hingeben und, wenn sie kundig waren, sich vorstellen, was alte Mythen erzählen. Dieser Zauber um-fängt die Menschen jetzt nicht mehr. Vielmehr werden sie gefangen-genommen von der monumentalen Figur, die Frau Holle darstellt, gerade aus dem Teich gestiegen sein sollend, aus ausdrucksvollem, seltenen Ulmenholz geschnitzt, den Platz be-herr-schend.“
In der letzten Zeile des Zitates aus einem Leserbrief findet sich der in der Debatte von Skulptur-Gegnern aus der neopaganen Szene mitunter angeführte Hinweis auf patriarchale Überherrschung und Machtmissbrauch. Das populäre esoterische Weltbild zeichnet sich insbesondere durch starre binäre Oppositionen aus: gut/böse, warm/kalt, Heidentum/Christentum, weiblich/männlich usw. Dieser differential-feministische Aspekt des Kultes um die Große Mutter findet hier seinen Niederschlag und wird in einer plumpen etymologischen Weise zum Ausdruck gebracht, wie in Kreisen des New-Age üblich: ’be-herr-schend’. Die Verklärung der Frau Holle zur matriarchalen Göttin einer archaischen gynozentrischen Gesellschaftsstruktur ist dabei identitätsstiftend.
Die Skulptur entspreche dem Bild der matriarchalen Göttin, welches diesem Diskurs zugrunde liegt, keineswegs. Vielmehr sei mit der gestalterischen Hervorhebung der sekundären Geschlechtsmerkmale, also den großen Brüsten, und vor allem der als harmlos gedeuteten Lieblichkeit der ganzen Erscheinung ein Frauenbild verbunden, welches emanzipatorischen Bestrebungen zuwiderlaufe. Die Identifikation mit der Frau Holle, das Zwiegespräch mit ihr am Kultplatz werde durch die raumerfüllende Präsenz der Skulptur unmöglich gemacht.
Im Zusammenhang mit der populären, durch die Skulptur fixierten Darstellungsweise der Frau Holle ist auch die Kritik an der touristischen Vermarktung anzuführen, den einige Gegner der Skulptur betonten: „In Zeiten des Turbo-Kapitalismus und des Neoliberalismus muss alles vermarktet werden. Da gibt es keine Schranken/Grenzen. Vermutlich ist der Druck gerade auch durch das hessische Landwirtschaftsministerium, inklusive der Forstbehörde so stark, zum Wirtschaftsfaktor Wald noch den Wirtschaftsfaktor Tourismus gekoppelt an Mär und Mythen hinzuzufügen. Wenn die Vermarktung der be-herrschende Gesichtspunkt bei der Aufstellung der Frau Holle ist, wird es nicht mehr lange dauern und die Frittenbude und der Eiswagen halten Einzug am Frau-Holle-Teich!“
Vermarktung wird hier als ein patriarchales Phänomen verstanden. Dieser Auffassung zufolge haben Männer und Frauen eine naturgegebene Wesensverschiedenheit, die weit über ihr biologisches Geschlecht hinausgeht. Weitreichende und folgenschwere Assoziationsketten und Geschlechterrollenzuweisungen ergeben sich daraus. Männer sind diesem Weltbild zufolge Vertreter von Kultur, Logik, Technik, Krieg, Kapitalismus und Umweltzerstörung, wohingegen Frauen als Vertreter von Natur, Intuition, Kunst, Frieden, Gemeinschaft und Heilung verstanden werden. Diese Spielart des Sexismus wurde übrigens ebenfalls von den Skulptur-Befürwortern verwendet, nur dass seine Zuschreibungen dort umgewertet wurden.
Die Kritik, so unterschiedlich sich auch ihre Argumentationen darstellten, richtete sich im Kern auf den Wunsch nach einem Raum, der menschlichem Zugriff und Eingriff verwehrt bleibt, einem Ort, der ein Refugium für numinose Mächte im Speziellen und wild wachsende Natur im Allgemeinen bildet, einer Außenwelt und Anderswelt, die unbeeinflusst von kommerziellen Interessen besteht, denen die Menschen tagtäglich in jeder erdenklichen Form ausgesetzt sind.
Die Befürworter
Die Bedenken der Kritiker wurden seitens der Touristiker, einem hinzugezogenen Feld- und Wiesenhistoriker und der Arbeit der örtlichen Printmedien systematisch abqualifiziert, und auch der Sachverhalt, dass große Teile der ansässigen Bevölkerung der Skulptur scheinbar duldsam oder in vielen Fällen auch positiv gegenüber standen, sorgte dafür, dass sie auch heute noch über den eutrophierenden, zunehmend verlandenden Wassern des Frau-Hollen-Teiches steht. Hauptsächlich wurden drei Argumente für den Verbleib der Skulptur am Frau Holle-Teich von den Befürwortern vorgebracht: Argument der notwendigen Vermarktung, Argument der historischen Authentizität, Argument des törichten Feminismus.
Das signifikanteste Argument für die Skulptur gründete sich auf ihrem Wert als touristisches Highlight, auf ihrem Nutzen für die Vermarktung der Werra-Meißner-Region. So äußerte der Vorsitzende des Naturparks Meißner-Kaufunger Wald: „Den Standort halte ich für gut. Die Skulptur macht Frau Holle sichtbar, soll neugierig auf ihre Geschichte machen und wird sich auch positiv auf andere Orte ihres Wirkens auswirken. Die Skulptur wird der Region touristisch gesehen sehr helfen. Es werden mehr unserer Gäste auf den Spuren von Frau Holle wandeln. Sie wird helfen, das Werra-Meißner-Land als Land der Frau Holle zu vermarkten.“ Der vielseitigen Kritik an der Skulptur wurden in erster Linie ökonomische Standpunkte entgegen gehalten, nämlich steigende Einnahmen durch den Tourismus.
Als Legitimation für die Aufstellung der Hollen-Skulptur bediente man sich dabei einer vermeintlichen Wissenschaftlichkeit. Der ambitionierte Heimatforscher, welcher neben einigen Dorf- und Stadtchroniken der Region auch manches zur Frau Holle und ihren Bezügen zu vorchristlichen Fruchtbarkeitsgottheiten veröffentlicht hatte, trat uneingeschränkt für den Verbleib der Skulptur am Teich ein. Dabei bediente er sich inzwischen widerlegten Argumentationen der Altertumswissenschaften des 19. Jahrhunderts, wenn er von den mythologischen Grundlagen des Sagenkreises der Frau Holle im Meißner berichtete und bestimmte Orte mit ihr in Beziehung setzte. Aus Anlass der besonderen Aufmerksamkeit für Frau Holle wurden seine Arbeiten 2005 in Buchform zusammengefasst und in der Lokalpresse beworben.
Der „Wirtschaftsfaktor Holle“ wurde durch den Historiker gleichsam wissenschaftlich geadelt. Sein Name, sein Doktortitel und seine Beurteilungen der Sachlage wurden von den Touristikern angeführt, wenn den ökonomischen Begründungen der Skulptur das Argument wissenschaftlicher Authentizität rechtfertigend zur Seite gestellt werden sollte. Dabei wurde stets auf die eigentlich selbstverständliche Überparteilichkeit und wissenschaftliche Sachlichkeit, Nüchternheit und Akribie des Heimatforschers hingewiesen, obwohl oder gerade weil es sich bei dem schmalen Büchlein ohne jeden Zweifel um eine Legitimations- und Werbeschrift der Hollen-Kampagne handelte – nicht zuletzt deshalb, weil der Einband stimmungsvoll inszenierte Fotografien der umstrittenen Skulptur zeigt.
Interessant ist nun die Art und Weise, wie der Kritik an der Skulptur auf dieser Ebene begegnet wurde. Man könnte annehmen, dass sich nach der vielfach attestierten Wissenschaftlichkeit eine Herangehensweise entfalten würde, die auf Grundlage der von den Kritikern vorgebrachten Argumente arbeiten würde. Dies war allerdings ganz und gar nicht der Fall. Es wurden vielmehr den Skulptur-Gegnern Kritikpunkte in den Mund gelegt, die von ihnen in dieser Form nie geäußert worden waren. So wurde den Kritikern eine reaktionäre Sichtweise auf Frau Holle vorgeworfen, nämlich dass sie die Darstellung Frau Holles als altes Mütterchen favorisieren würden. Man selbst rühmte sich hingegen, das mythologische Urbild der Terra Mater als junge gebärfreudige Frau abgebildet zu haben. Diese Zuweisung wurde von den verantwortlichen Touristikern und der Presse übernommen und bald konnte man überall lesen, dass die Gegner der Skulptur Anhänger der alten langweiligen Märchen-Holle seien. Das Erstaunliche an dieser Zuschreibung war, dass insbesondere die neopagan-esoterische Kritik sich ja gerade auf den Mythos der Frau Holle als vorchristliche Fruchtbarkeitsgöttin, keineswegs aber auf die Frau Holle des Grimmschen Märchens berufen hatte. Wenn jemand an die Göttin statt an die Märchen-Holle glaubte, dann war es diese Klientel. Nicht die Darstellung als junge Frau war von dieser Seite kritisiert worden, sondern deren liebliche Konformität und der Sachverhalt eines Bildnisses überhaupt.
Ähnlich paradox verhielt sich die Kritik der Kritik im Hinblick auf die Verteidigung des Standortes der Skulptur. Der Kritik an der Entweihung des Naturheiligtums wurde mit einer „wissenschaftlich“ untermauerten Beweisführung des paganen Naturheiligtums begegnet. Und bald darauf war in der Lokalzeitung zu lesen: „Zur Standortfrage äußert sich der Historiker eindeutig: Wenn ein Standort, dann der Frau-Holle-Teich, nicht aber am nahen Parkplatz oder gar am Schwalbenthal.“ Es war, als würde man auf den Einwand, dass dort seltene Vögel nisteten, entgegnen, dort würden tatsächlich seltene Vögel nisten. Ein Paradoxon, welches für die Kontroverse am Frau Holle-Teich charakteristisch ist. Anhand der zwei zentralen – „wissenschaftlich“ legitimierten – Rechtfertigungen der Skulptur, nämlich des Hinweises auf die Gestalt des Mythos und auf die Authentizität des Schauplatzes, wird ersichtlich, wie einfach der kritische Diskurs zum affirmativen Diskurs umgeformt werden kann. Der Heimatforscher wurde zum Instrument der Legitimation der Ökonomisierung des Hollen-Mythos. Der Wissenschaftler gab der obsiegenden Partei seinen Segen und die Strahlkraft seines Doktortitels.
Weiterhin sei noch darauf hingewiesen, dass, würde man im Fall des Götterbildnisses am Frau Holle-Teich Maßstäbe der Wissenschaftlichkeit anlegen, die Skulptur an diesem Ort durchaus problematisch wäre. Der Heimatforscher behauptete etwa an verschiedener Stelle, auch auf überlieferten bildhaften Zeugnissen aus dem Mittelmeerraum seien Götter und Göttinnen als jung und schön dargestellt. Es ist jedoch ethnologisch wie religionsgeschichtlich völlig unhaltbar, dies in Beziehung zu paganer nord- und mitteleuropäischer Religionspraxis zu setzen, vielmehr ist diese wesentlich bildlos, wie uns beispielsweise der Römer Tacitus im ersten nachchristlichen Jahrhundert in seinem ethnografischen Werk „Germania“ überliefert hat: „Übrigens finden sie es unvereinbar mit der Größe der Himmlischen, sie in Wände einzuschließen und irgendwie menschlich abzubilden. Dagegen weihen sie ihnen Haine und Wälder, und mit Götternamen benennen sie jenes geheimnisvolle Wesen, das sie nur kraft religiöser Ehrfurcht erblicken.“
In diesem Sinne äußerte sich übrigens auch Joseph Beuys über die Gottheiten der Germanen: „Sie gingen um mit Odin, mit Donar mit Holda; sie hatten eine Menge von männlichen und weiblichen Göttern, die zumeist in den natürlichen Elementen lebten; im Feuer, im Wind; sie wurden nicht in Figuren eingefangen, wie in der antiken griechischen Kultur. Das germanische Symbol für all diese lebendigen Götter war meist nur ein lebendiger Baum, nichts sonst. Die Menschen mögen einige Dinge an den Baum gelegt haben, wie einen Pferdekopf, um einem besonderen Gott hervorzuheben, doch prinzipiell war es, einfach dem Baum zuzuhören, wenn der Wind in ihn fuhr oder wenn sich das Wetter änderte oder ein Regenbogen kam oder der Mond erschien. Weißt du, das ist nämlich eine Art vom Verstehen der Götter, die nicht, wie in der antiken Welt skulptural erscheint.“[2]
Im Rahmen der Rechtfertigung der Skulptur wurde immer wieder auf die angeblich rein feministische Ausrichtung des Lagers der Kritiker hingewiesen, als ob diese Zuweisung allein schon ausreichen würde, deren Standpunkte zu diffamieren. In fast jeder Veröffentlichung zur Kontroverse findet sich dieser Fingerzeig auf das Geschlecht der Skulptur-Gegner. Zweifellos ist diese Behauptung sachlich falsch; denn auch zahlreiche Männer äußerten sich kritisch zu der Hollen-Skulptur, und nicht wenige Frauen waren begeistert von ihr. Dennoch steigerte sich das Befürworterlager in geradezu sexistisch zu nennende Vorwürfe hinein: So wurde vielfach geäußert, die üppigen Proportionen der Holle hätten den Neid derjenigen Frauen erregt, die weniger reichlich ausgestattet seien. Aus München meldete sich der Verfasser eines Leserbriefs und tat mit gleichsam krachlederner Prägnanz folgende Sicht der Dinge kund: „Bin über den Artikel gestolpert und musste sehr viel lachen. Ich habe den Eindruck, dass Ihre Frauenbeauftragte Minderwertigkeitskomplexe hat. Frauen, die diese Statue als erotische Skulptur bezeichnen, haben meiner Meinung nach ein Problem mit sich selbst. Neid ist eine traurige Eigenschaft. Ich wünsche ihnen einen steigenden Fremdenverkehr.“
Die Argumente der Skulptur-Befürworter stützen sich in erster Linie auf den Begriff der Wirtschaftlichkeit. Die Vermarktbarkeit wird zum beherrschenden Argument, zu einem messbaren Erfolg oder Misserfolg, dem sich andere Betrachtungen unterzuordnen haben, sollten sie nicht als nutzlos, romantisch oder gar wahnsinnig verächtlich gemacht werden. Die historische Heimatforschung hat in diesem Zusammenhang sekundierende Bedeutung und wird dadurch eklatant problematisch: Ihr kommt die Aufgabe der Wahrung historischer Authentizität zu, welche die notwendige Glaubwürdigkeit und Seriosität erzeugt; sie wird zum Instrument der touristischen Vermarktungsbestrebungen. Die Skulptur soll in erster Linie Besucher in den Naturpark locken und für wirtschaftlichen Aufschwung sorgen. Die dralle jugendliche Darstellungsweise der Holle wird zum Werbeträger einer Region. Zuletzt erweist sich die Publikumswirksamkeit der öffentlichen Kontroverse als unbezahlte und unbezahlbare Werbekampagne. Die Kritiker der Skulptur werden so ungewollt zu Instrumenten einer touristischen Werbekampagne.
Der Ausverkauf
„Ist doch egal, wie groß ihre Brüste sind, Hauptsache Frau Holle ist für die Besucher des Hohen Meißners eine echte Attraktion.“ So urteilte der damalige Fraktionsvorsitzende der CDU im Hessischen Landtag bei einer Besichtigung der Skulptur. Die bundesweite Resonanz auf die Debatte um die Frau Holle-Skulptur auf dem Hohen Meißner ist enorm werbewirksam für die Region gewesen. Im Rückblick wirkt die Kontroverse fast so, als sei sie von den zuständigen Touristikern initiiert worden, gewissermaßen als Auftakt für die im Frühjahr 2005 massiv einsetzende Vermarktung der Frau Holle.
Frau Holle wird geheimnisvoll inszeniert, die Begegnung mit ihr wird als zauberhafte Möglichkeit dargeboten: „Frau Holle ist auf dem Meißner zu Hause; der Frau-Holle-Teich soll der Eingang in ihr unterirdisches Reich sein. Ob sie der sagenhaften Gestalt wohl begegnen?“ So bewirbt eine Tourismus-Broschüre die Region. Dass man Frau Holle in ihrer mythologischen Vielgestaltigkeit wirklich auf dem Meißner begegnen könnte, ist spätestens nach derartiger Lektüre unmöglich geworden. Die Sehnsüchte, die von der Werbung angesprochen werden, können im touristischen Event nicht erfüllt werden. Wichtig für das Marketing sind einzig die Atmosphären und Stimmungen, die beim Kunden hervorgerufen werden. Am Ort der Sagen hat sich eine doppelte Scheinwelt ausgebreitet: An die Phantasie der Märchen und Sagen haben sich kommerzielle Scheinwelten angeschlossen. Der französische Medientheoretiker und Philosoph Jean Baudrillard spricht diesbezüglich von einer „Rede ohne Antwort“, durch welche die eigene Phantasie und Tätigkeit der Menschen verhindert werde.
Der Weg ins Märchenland ist asphaltiert, kartografiert und durch zahlreiche Wegweiser touristisch erschlossen. Eine eigene Annäherung wird unmöglich gemacht, mittels ständiger Wiederholung festgeschriebener formelhafter Imaginationsketten, wird in enge, dem Konsum einträgliche Bahnen gelenkt. Eigene Erfahrungen müssen zurückstehen, sind nicht wichtig, mitunter sogar störend, sind hemmender Ballast, der das Konsumverhalten beeinträchtigen könnte. Konsum und Spektakel scheinen zu Ersatzbefriedigungen menschlicher Sehnsucht nach Sinn und Bedeutung geworden zu sein. Land und Mythos werden ausverkauft.
Welf-Gerrit Otto
Hörtipp zur Lektüre: Chained to the Rhythm, Katy Perry, Album: Witness, 2017
Anmerkungen
[1] Ein ausführlicher Artikel zum Thema mit allen Literatur- und Quellenangaben sowie den vollständigen Namen der Akteure des Konflikts findet sich hier: Welf-Gerrit Otto: Das Superweib vom Märchenteich. In: Hessische Blätter für Volks- und Kulturforschung, Neue Folge 44/45 (2008/2009), Marburg: Jonas 2009. S. 426-455.
[2] Joseph Beuys am 29.01.1982 in einem Gespräch mit dem Lama Sogyal Rinpoche zur Vorbereitung seines Zusammentreffens mit dem Dalai Lama.