Moorchronik 1: Von den Anfängen bis zur Fehnkultur

Der Mensch und seine Kultur stehen in ständigen Wechselbeziehungen mit der sie umgebenden Landschaft

Torfmoos (Welf-G. Otto, 2016)

Hochmoor. Endlose Weite, baumlos. Konvexe Wölbung ins Unendliche. Kein Gewächs über Kniehöhe, nirgends Schattenwurf und Regenschutz, nur weite Himmel über dem Morast. Moospolster, gezirkelt allein durch den Horizont. Weithin schwimmendes Kraut, olivgrün, gelbgrün, braungrün. Schwingrasen. Dazwischen Kolke. Schwarze unergründliche Wasserlöcher bilden Muster im nassen Schwamm des Grüns. Unbehaustes Grenzland fern der Menschenwelt, nicht See noch Land. Erhaben und ungeheuerlich gleichermaßen.

Märchen und Sagen transportieren die Vorstellungen vergangener Tage über Irrlichter, verdammte Seelen und Naturgeister, die im Fenn hausen sollen. Die achtzigjährige Frau Gerdt aus dem schleswig-holsteinischen Günnebek brachte 1928 die Bedenken der ansässigen Landbevölkerung hinsichtlich des örtlichen Moorspuks zum Ausdruck, als sie einem Volkskundler rät: „Dar gah man ni hin in’n Düstern, dar spökelt dat, in’t Fiendmoor, wör seggt.“[1]

Die nach dem Ende der letzten Eiszeit entstandenen Hochmoore bestimmten bis vor etwa hundert Jahren maßgeblich das Leben der Menschen auf dem Gebiet des heutigen Norddeutschlands. Auf alten Fotografien ist noch eindrücklich ihre einstmals ungeheure Ausdehnung zu erkennen, obwohl schon damals weite Teile vom Menschen zerstört worden waren. Heute ist bis auf wenige kümmerliche Reste, renaturiert und anschließend möbliert mit quietschgrünen Hinweistafeln zu Flora, Fauna und Sponsoren, nichts mehr von der einstigen Erhabenheit dieser Urlandschaft auszumachen.

Das Besondere am Hochmoor ist der Boden, oder vielmehr das Bodenlose. Hoch- oder Regenmoore bestehen aus sauren und mineralsalzarmen Torfböden. Im Gegensatz zu Niedermooren werden sie ausschließlich von Regenwasser gespeist. Die großen Hochmoorgebiete sind zu Beginn des Holozäns vor etwa zehntausend Jahren entstanden, als sich die Gletscher des Weichselglazials langsam nach Norden zurückzogen und das Klima zunehmend wärmer und niederschlagsreicher wurde. Hochmoore bildeten sich entweder direkt auf mineralsalzarmen Böden, auf denen das Regenwasser nicht abfließen konnte oder auf verlandenden Gewässern, waren also anfänglich Niedermoore.

Sauerstoffmangel und saures Substrat verhindern die Zersetzung abgestorbener Pflanzen durch Mikroorganismen. Das Moor wächst sozusagen auf den nicht verwesten Rückständen seines eigenen Körpers. Es bildet sich ein Torfpolster, das mit der Zeit über den Grundwasserspiegel hinausragt – deshalb auch die Bezeichnung Hochmoor. Diese Feuchtbiotope sind ausgesprochen artenarm. Bis auf wenige Ausnahmen besteht das Hochmoor lediglich aus Moosen der Gattung Sphagnum, sogenannten Torfmoosen. Sie verfügen über keine Wurzeln und können das Dreißigfache ihres eigenen Gewichts an Wasser speichern. Das Wachstum der Torfschicht beträgt unter idealen Bedingungen alljährlich nur etwa einen Millimeter. In tausend Jahren wächst das Moor also rund einen Meter in die Höhe.

Neben seinem klimatischen und ökologischen Nutzen bringt der ungeheure Wasserschwamm auch für den Menschen unmittelbare Vorteile mit sich. Bereits früh erkannten die Bewohner moorreicher Gebiete den Brennwert der tieferliegenden Schwarztorfschichten. Landwirtschaftlich war der saure und feuchte Untergrund allerdings lange Zeit nicht verwertbar. Auch die Brauchbarkeit der oberen Weißtorfschichten wurde erst vor etwa hundert Jahren erkannt.

Der vorliegende Text möchte die Einflussnahme des Menschen auf das Hochmoor und seine Böden kurz umreißen. Über Jahrtausende blieb dieser Einfluss verhältnismäßig geringfügig. Erst in jüngster Vergangenheit kam es zu einem rasanten Wandel, der seine Ursache in technischem Fortschritt und anwachsender Bevölkerungszahl hatte. Im Folgenden sollen die einzelnen Stationen dieses Wandels vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen Zeitströmung  auf das Wesentliche komprimiert dargestellt werden.

 

Altertum/Frühes Mittelalter: Wege und Zeitkapseln

Die großen Hochmoore des Nordens isolierten die Siedlungsgebiete der Menschen lange Zeit voneinander. Eine weiträumige Kultivierung und Kolonisation erfolgte erst in den letzten Jahrhunderten. Davor siedelte man ausschließlich im Moorrandbereich. Der hoch gelegene trockene Saum des Moors bot den Menschen Schutz vor Überschwemmungen und anderem Ungemach. Kleine hofeigene Torfstiche versorgten die Siedler mit dem notwendigen Brennmaterial. Ansonsten blieb die Landschaft weitgehend unverändert. Weit hinein in ihre unergründlichen Tiefen wagte sich kaum jemand. Lange Zeit galten die unberechenbaren Flächen als unpassierbar und furchterregend. Durch seine Unwegsamkeit und die Gefahr des Versinkens, aber auch durch seine konservierenden Eigenschaften bot das Moor dem Menschen sicher bereits früh den Anlass zu religiösen Zuschreibungen.

Die großen Moorgebiete entzogen sich der menschlichen Nutzung, standen deshalb außerhalb der menschlichen Ordnung in einem Raum des Chaotischen, Ungeordneten, jenseits der Grenze der Zivilisation. Indifferent in jeder Hinsicht, weder See noch Land, schienen sie gleichsam den dritten Schöpfungstag verschlafen zu haben. An diesen Orten, die sich in ihrer ganzen erhabenen Weite jahrtausendelang jedem Eingriff entzogen hatten, verortete der Mensch numinose Kräfte, die sein Schicksal bestimmten und die er deshalb durch bestimmte Rituale für sich zu gewinnen trachtete. Die zahlreichen Deponate, die in mittel- und nordeuropäischen Mooren gefunden wurden, lassen auf eine rege Opfertradition vom Mesolithikum bis in die Neuzeit schließen und bezeugen die Wahrnehmung dieser Landschaft als numinosen Raum.

Bereits 4600 vor unserer Zeitrechnung wurden die ältesten bisher entdeckten Bohlenwege Nordwestdeutschlands angelegt – möglicherweise als Folge der allmählichen neolithischen Sesshaftwerdung der nomadisierenden Jäger- und Sammlerkulturen. Durch die neue Wegetechnologie vermochten die Menschen fortan, die unwegsamen Flächen an schmalen Furten zu überqueren, was Handel und kulturellen Austausch begünstigte. Manche Bohlenwege führten allerdings nicht durch das Moor, sondern in es hinein. Einige der raffinierten Holzkonstruktionen endeten inmitten der feuchten Wildnis. Handelte es sich bei ihnen um Wege zu den Göttern? Vieles weißt darauf hin.

Aufgrund seiner konservierenden Eigenschaften ist der saure Moorboden ein ausgezeichnetes Langzeitarchiv für alles Organische. Er kann Pflanzensamen mitunter über Jahrhunderte hinweg keimfähig halten. Auch die Körper von Tieren und Menschen, die ins Moor geraten, zersetzen sich im sauren Milieu kaum. Auf diese Weise wird das Moor zu einem archäologischen Fenster in die Vergangenheit. Ein besonders eindrückliches Beispiel aus Schleswig-Holstein ist die Moorleiche des Jungen von Windeby aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert. Der Moorboden ermöglicht es, Menschen längst vergangener Zeiten ins Angesicht zu schauen, ihren Gesundheitszustand, ihre Kleidung, Haartracht und Ernährungsweise zu studieren.

Ursächlich für die beeindruckenden Konservierungseigenschaften des Moorbodens sind Sauerstoffmangel und huminsäurehaltiges Milieu. Diese Voraussetzungen sorgen dafür, dass Mikroorganismen, die andernorts für den Zersetzungsprozess verantwortlich sind, im Moor nicht existieren. Verändert der Boden sich in dieser Hinsicht, etwa durch Entwässerung, wird der Verwesung eingeleitet.

 

Mittelalter/Neuzeit: Torfstich und Moorbrandkultur

Ganz im Gegensatz zu den nährstoffreichen Niederungsmooren, die bereits früh vom Menschen genutzt wurden, begann man mit der Erschließung der Hochmoore relativ spät. Am Anfang steht die Nutzung des Schwarztorfs als Brennmaterial. Insbesondere in den waldarmen Gebieten Hollands und Norddeutschlands stellte Torf eine reichhaltig vorhandene Alternative zum Holz dar, das als Baumaterial zu kostbar war, um es zu verbrennen. Bereits der römische Schriftsteller Plinius der Ältere berichtet im ersten nachchristlichen Jahrhundert von dieser Praxis, die es den Eingeborenen erlaube, „ihre vom Nordwind starrenden Eingeweide zu wärmen“.

Im späten Mittelalter wurde Holz immer knapper. Man benötigte es für den Bau von Gebäuden, Sielanlagen und Schiffen. Der ehemals hauseigene Brenntorfstich wurde von den Bewohnern der Moorrandgebiete deshalb ausgeweitet und als neue Einnahmequelle genutzt. Trotzdem beschränkte sich der Eingriff ins Moor weiterhin auf seine äußersten Randbereiche. Kaum jemand wagte sich weiter als unbedingt erforderlich in die schwankenden Flächen. Planlos und unsystematisch stach der Mensch des Mittelalters im näheren Umkreis seiner Behausung den Brenntorf.

Im 16. Jahrhundert nahm die Bevölkerung Europas nach Pestepidemien und Agrarkrise wieder zu. Neue Ackerflächen mussten erschlossen werden, um die Versorgung mit Lebensmitteln zu gewährleisten. Erstmals traute sich der Mensch tiefer in die wüsten Ödlande der heimischen Hochmoore. Aufgrund der nährstoffarmen Böden konnte hier ohne geeignete Maßnahmen allerdings kaum eine Nutzpflanze gedeihen. Man erkannte jedoch bald, dass durch gezieltes Abfackeln der angestammten Vegetation zumindest eine zeitweilige Bodenverbesserung eintrat, die den Anbau einiger Arten ermöglichte.

Bei der sogenannten Moorbrandkultur entwässerte man den Boden zuerst oberflächlich und steckte ihn anschließend in Brand. Das in der Biomasse gespeicherte Nährstoffkapital wurde auf diese Weise für die landwirtschaftliche Produktion verfügbar gemacht. Man säte insbesondere Buchweizen, Dinkel und Hafer. Allerdings konnte das so entstandene Ackerland nur sechs Jahre bestellt werden. Danach musste der Boden für dreißig Jahre brach liegen. Mit der Zeit waren die Felder derart ausgezerrt, dass sie sich zu Heiden und Wüstungen entwickelten. Ein wenig nachhaltiges Verfahren also, dass sich nicht sonderlich lohnte und aus Armut und Unkenntnis geboren war. Erst 1923 verbot man den Moorbrand gänzlich.

 

Der Geist der Aufklärung: Fehnkultur

Das Licht der Aufklärung erhellte schließlich auch die rückständigen Moorgebiete des Nordens, deren ärmliche Bevölkerung von den Städtern mitleidig mit ihrer wüsten Landschaft in Verbindung gebracht wurden. Der Historiker und Theologe Johann Gottfried Hoche beschrieb um das Jahr 1800 die wilden Moore und ihre Bevölkerung und betonte dabei die Notwendigkeit einer nach Maßstäben der Vernunft und Wirtschaftlichkeit gestalteten Landschaft als unbedingte Voraussetzung der „Bildung des Menschengeschlechts zur Humanität“. Nach Meinung des Aufklärers Hoche waren „die Reize einer schönen Gegend und die bessere Kultur des Bodens“ nur durch umfassende Kultivierungsmaßnahmen zu gewährleisten.

Die erste planvolle Moorkolonisation erfolgte im Verlauf des 17. Jahrhunderts ausgehend von den Niederlanden. Bei der sogenannten Fehnkultur – das Namenselement „Fehn“ beziehungsweise „Veen“ stammt aus dem Niederländischen und Niederdeutschen und bedeutet Moor – wurden die Flächen tiefgründig durch schiffbare Kanäle entwässert. Weitere kleinere Abflüsse wurden rechtwinklig zu den Hauptkanälen angelegt. Hierdurch erzielte man eine nachhaltige Trockenlegung. Neben der Entwässerung hatten die Kanäle noch eine weitere Funktion. Mittels getreidelter Schiffe konnte der entlang der Wasserstraßen gestochene Torf abtransportiert werden. Auf ihrem Rückweg ins Moor führten die Schiffe Schlamm und Erdreich für eine oberflächliche Düngung sowie Baumaterial für die Kolonistenhäuser mit sich, die sich entlang der Kanäle wie an einer Perlenschnur reihten.

Heute sind die gleichförmig bebauten, schnurgeraden Fehnsiedlungen Norddeutschlands und der Niederlande picobello aufgeräumt und ziemlich öde. Ein bescheidener Wohlstand mit Vorgarten und Pkw-Stellplatz. Das war indes nicht immer so. Die Fehntjer, wie die ersten Siedler auch genannt wurden, waren meist arme Leute, die auf der Suche nach einem Auskommen die Strapazen der Moorkolonisation auf sich nahmen. Allein der Kanalbau erforderte in vorindustrieller Zeit einen enormen Arbeitsaufwand. Im Anschluss wurden die erschlossenen Gebiete in einzelne Parzellen aufgeteilt und an Interessenten zur weiteren Bearbeitung vergeben.

Als Behausungen dienten den Kolonisten anfänglich zugige, aus Moorplaggen aufgeworfene Hütten. Bis ins 20. Jahrhundert hinein lebten viele Moorkolonisten unter haarsträubenden Verhältnissen. Der vielfach zitierte Ausspruch „Dem ersten der Tod, dem Zweiten die Not, dem Dritten das Brot“ wird in Zusammenhang mit dieser Form der Besiedlung gebraucht. Die Fehnkultur gilt als erste nachhaltig betriebene Binnenkolonisation der Hochmoorgebiete des Nordens. Den Pionieren ging es dabei in erster Linie um den Abbau und Verkauf von Brenntorf. Landwirtschaft spielte insbesondere in den Anfangsjahren kaum eine Rolle. Um den Transport zu erleichtern und nicht abhängig von anderen zu sein, erwarb jeder, der es sich leisten konnte, einen Kahn. Das hatte nicht nur den Vorteil, den eigenen Torf zu Markte zu tragen. Man konnte sein Einkommen auch dadurch ausbessern, indem man den Rohstoff jener Kolonisten, die für ein solches Gefährt nicht aufkommen konnten, gegen Lohn verschiffte. Denn die Fehntjer mussten sich findig Nebenerwerbsquellen erschließen. Viele von ihnen arbeiteten in der Seeschifffahrt, während ihre Frauen daheim die Moorerschließung vorantrieben.

Die Fehnkultur wurde bis weit ins 20. Jahrhundert hinein praktiziert. Als bedeutendste Fehnsiedlung Deutschlands gilt das 1630 gegründete Papenburg im niedersächsischen Emsland. Bemerkenswert an dieser Form der Moorkolonisation war das planvolle Vorgehen, das dem Geist und der Ästhetik der Epoche der Aufklärung entsprach. Die einstmals wilde Landschaft wurde nach und nach kultiviert und entsprechend der Ideale der Zeit in ein geometrisches Gefüge verwandelt, das mit der formalen Strenge französischer Gartenkunst korrespondierte. Der Boden wurde bei dieser vorindustriellen Kultivierungsmethode bis auf die nachhaltige Entwässerung allerdings nur geringfügig verändert. Der oberflächliche Auftrag von nährstoffreichen Erden wirkte sich nur sehr eingeschränkt auf eine Verbesserung der Bodenqualität im Sinne einer ertragreichen Landwirtschaft aus.

Welf-Gerrit Otto

Hörtipp zu Lektüre: Cantus in Memoriam Benjamin Britten, Arvo Pärt, 1977

Fortsetzung: Moorchronik II

 

Anmerkungen

[1] Zentralarchiv der Deutschen Volkserzählung Marburg, Bestand Schleswig-Holstein 58434.